Franz ZauleckZaulex.de

18. Juni 2011: Fremde im Spiegel, Eröffnung der Ausstellung von Barbara Putbrese und Robert Metzkes in Altlangsow

Immer wenn wir ein Labyrinth betreten, reden wir von Ariadne.
Merkwürdigerweise brauchen wir den Faden der Prinzessin aus dem Hause Minos nicht, um in das Labyrinth hineinzukommen, nein wir brauchen ihn, um hinauszufinden.
Barbara und Robert haben für ihre Ausstellung das listige Motto Fremde im Spiegel gewählt. Ist dieses Motto das Labyrinth? Oder ist es der Faden?

Unsere beiden Künstler leben und arbeiten – soviel lässt sich beobachten – in einer wundersamen Fremdheit, die es beiden erlaubt, so zu leben, wie sie arbeiten und so zu arbeiten, wie sie leben.
Das können nur wenige.
Das können nur jene, die es ertragen und aushalten in Gegensätzen zu leben und zu arbeiten.

Wenn zwei Protagonisten die Bühne betreten, ist der lebendige Gegensatz da. Barbara und Robert sind gewissermaßen aus Protagonistenholz geschnitzt. Mit ihrem Auftritt lernen wir auch gleich die Antagonisten kennen, die dem Gegensatz die Richtung geben.
Ich halte den Ariadnefaden in den Händen.
Fremde im Spiegel.
Der Spiegel bildet wie das Fremde ein reich und kompliziert gewundenes Areal im philosophischen Zaubergarten. Der Spiegel ist ein mythisches Möbel. Spiegel werden zerschlagen. Spiegel werden verhängt. Spiegel werden blind. Wir kennen so viele Spiegelgeschichten: Narzissos und die böse Königin sehen in die Spiegel hinein und sind schon verloren. Wir wissen, dass der Spiegel uns nur ein Bild zeigt und doch sind wir immer wieder bereit ihm zu glauben. Alles, was er uns zeigt ist fremd. Der Spiegel liefert Spiegelschrift. Wenn wir sie stotternd entziffern, begreifen wir vielleicht den verloren gegangenen Sinn des Textes. Der Griff hinter den Spiegel geht zwar ins Leere aber der Blick hinein wäscht unsere Augen.

Der Spiegel schenkt uns Fremdheit.
Wenn zwei Vertraute in den Spiegel sehen, werden sie einander fremd. Sehen Fremde in den Spiegel, werden sie dann womöglich einander vertraut? Ist dieser Umkehrschluss erlaubt? Minus mal Minus gleich Plus?

Das Geschenk der Fremdheit – so würde ich das Motto deuten – erlaubt, das, was wir sehen, wieder neu zu sehen. Sind wir einander fremd durch Gewohnheit, werden wir dann wieder vertraut durch Fremdheit.
Wir brauchen allerdings einen Spiegel, der uns verbindet und trennt.

Der künstlerische Prozess hat – dem Spiegel nicht unähnlich – auch zwei Gesichter. Das eine – das soziale Gesicht – öffnet sich zur Welt. Es ist das Antlitz der Teilnahme und Teilhabe. Das andere Gesicht wendet sich von der Welt ab. Es ist im wortwörtlichen Sinne asozial. Es flieht die Gesellschaft, es verkörpert Abstoßung, Rückzug und Abspaltung.

Der große Spagat zwischen Öffnung und Rückzug ist die Elementarübung des Künstlers. Das muss täglich geübt werden. Wie Bodenturnen oder wie Flötespielen. Das ist der Preis für den gotteslästerlichen Hochmut, sich ein Bild von der Welt machen zu wollen.
Öffentliche Teilhabe ohne Rückzug kann keine Kunst erschaffen.
Rückzug ohne Teilhabe führt in den Wahnsinn.

Das öffentliche Getriebe wie die Einsamkeit legen sich gleichermaßen auf das Herz des Künstlers. Wer hält diese Spannung auf Dauer aus? Wann reißt das Band?
Auf diese Frage reagieren Künstler mit der Bildung von Künstlerbünden. Hier finden sie beides: die Abgeschiedenheit und die Teilhabe.
Erfahrungsgemäß sind 99 von 100 Künstlergemeinschaften hochexplosive Veranstaltungen, die sich regelmäßig in zerstörerische Allianzen verwandeln. Die Fliehkräfte auf solchen Kampfplätzen sind dann größer als die Kräfte der Anziehung.

Manchmal aber – sehr, sehr selten – geschieht das Wunder: Das Bündnis hält. Die Anziehung und die Fliehkraft bilden ein Gleichgewicht. Dann ist die Alliance von Dauer und ermöglicht Produktion. Die Spannung zwischen innen und außen ist ausgewogen und lebbar.

Zeugnisse dieses Wunders sehen wir heute hier. Barbara und Robert bilden eine geglückte Allianz, in der sich die Fliehkräfte und die Kräfte der Anziehung die Waage halten. Eins braucht das Andere. Das Andere braucht Eins. – Das Einerseits und das Andererseits – hier sind sie kunstvoll ausbalanciert.

Doch wer sich die Fliehkräfte, die unter dem Dach dieser Allianz vereint sind, genauer ansieht, betrachtet diese Stabilität mit Bewunderung. Es ist ein Bündnis aus vielen widersprüchlichen Bündnissen.
Das erste – auf der Hand liegende Bündnis ist natürlich das Bündnis zwischen Frau und Mann, naturgemäß das widersprüchlichste Bündnis.
Mozart bringt es auf diesen Reim:

Mann und Weib
Und Weib und Mann
Reichen an die Gottheit an.

Obwohl es komisch klingt, hat Mozart das gewiss nicht nur komisch gemeint. Frauen und Männer, die diesen Gottesbeweis anstreben, wissen, welche Gegensätze in einer solchen Allianz zum Tragen kommen und welche Kräfte – auch Fliehkräfte – wir aus diesen Gegensätzen empfangen können.

Ein anderes Bündnis der Anziehungs- und Fliehkräfte, das hier in dieser speziellen Verbindung an den Tag kommt, ist das wundersame Bündnis der Himmelsrichtungen. Barbara stammt aus Puddemin auf Rügen – gewissermaßen aus Südschweden. Die Luft ist klar, hier weht ein scharfer Wind. Der Blick geht weit in den Norden. Die arktischen Winde treffen an dieser Stelle zuerst und ungebremst auf das Land.
Robert wurde in Pirna in Sachsen geboren. Hier geht der Blick in den Süden. Hier meinen wir das Wetterleuchten Italiens mit Händen greifen zu können.

Wo baut sich ein nord-südliches Paar sein Haus? In der Mitte. Es geht den Umweg über Dresden und bleibt am Ende in Berlin. Hier ist es wärmer als im Norden und kälter als im Süden. Hier prallen die nordsüdlichen Winde auf die ostwestlichen. Hier gibt es von Montag bis Freitag schöne Wolken und am Sonntag ist immer Gewitter.

Die Bruchpunkte zwischen Dresden und Berlin – das nur nebenbei – drängen sich wie von selbst auf, in die Reihe der kraftspendenden Gegensätze aufgenommen zu werden. Die Reibung dieser beiden Städte bildete zu allen Zeiten mächtige weitleuchtende Funken.

Eine weitere widersprüchliche Koalition findet sich in der Verbindung von Wasser und Feuer. Barbara zeigt Aquarelle, Robert Terrakotten und Bronzen. Im Material dieser Arbeiten treten die antiken Elemente auf. Luft und Wasser und Feuer und Erde. Wasser schleift Stein. Feuer löscht Wasser. Wasser löscht Feuer. In der Feuer- und Wasserprobe der Zauberflöte heißt es:

Der, welcher wandert diese Straße voll Beschwerden,
wird rein durch Feuer Wasser Erden...

Die mythische Feuer- und Wasserprobe ist der große Roman von Krise, Katharsis und Auferstehung; eine Prüfung, die schließlich allen großen Liebenden abverlangt wird. In der Regel bekommen das die klein Liebenden erst mit, wenn der Dachstuhl brennt oder die Flut die Hütte fortreißt. Und dann kapieren sie, dass diese Prüfung ihr Vermögen völlig überfordert.

Gibt es weitere Bündnisse? Ohne Frage, es gibt viele. Da wäre noch das Bündnis von Dauer und Vergänglichkeit. Vergraben Sie ein Aquarell und eine Tonfigur im Garten. Die Archäologen werden nur für eins zu danken haben. Der Ton darf Zeugnis ablegen. Das Aquarell ist Staub. Das ist natürlich ungerecht. Dass materiell Verletzliche ist schließlich geistig ebenso robust, wie das anscheinend Robuste verletzlich ist.

Und dann ist da – um von den hier ausgestellten Arbeiten zu reden, wir können uns hier ein Bild davon machen – die spannungsreiche großformatige Koalition zwischen der nördlich-rauhen, weiblich-offenen Expressivität und der südlich-sicheren männlich-konturenstarken Klassizität.

Die Liste der Gegensätze könnte jetzt ohne weiteres fortgeschrieben werden. Diese Koalition ist reich, da fände sich noch einiges.

Seit einigen Jahren bewohnt unser widerstreitend-harmonisches Paar ein beeindruckendes Haus. Es steht in Berlin-Karlshorst und bietet der Gemeinschaft von Fliehkräften ein schützendes Dach. Dass dieses Haus dereinst Künstler beherbergen sollte, hatten seine Erbauer nicht geplant. Die ursprüngliche Gründungs-Idee dieses Hauses war die unmittelbare materielle Wertschöpfung; dem hatte es sich unterworfen, so sah es beim Einzug des Paares auch aus. Für die künstlerische und geistige Arbeit war dieses Haus nie gedacht. Nun bietet es zwei, auf wundersame Weise im Gegensatz verbundenen Künstlern die Bühne und den Spiegel einer ungewöhnlichen Produktion. Das Haus selbst ist Teil dieser Produktion. Die Räume und Ebenen, die sich die beiden Meter um Meter zu eigen machen, sind, wenn man so will, ein ideales Gleichnis ihrer Gemeinschaft. Dieser Aneignungsprozess steht der künstlerischen Arbeit nicht – wie man fürchten sollte – feindlich gegenüber. Nein, er wird mit dem gleichen spielerischen Ernst in den Künstleralltag eingeflochten, wie der Aufbau einer Skulptur oder das Anlegen eines Aquarells. In diesem Haus vereinen sich spielerisch ernsthaft die widerstreitenden Kräfte zu einem begehbaren Kunstwerk. Das Arrangement der Pflanzen und Plastiken, die Korrespondenz von Farben und Formen, die Textur von außen und innen, die Hängung der Zeichnungen, die Arbeitsräume, Ruheräume und Bücherorte, alles erzählt dem, der hören kann, etwas von dem Verhältnis von Zweck und Freiheit.

Die Gespräche im Hause von Barbara und Robert brauchen, wie die Tomaten an den sommerlich warmen Wänden, Zeit zum Reifen. Wenn die beiden über das Wetter reden, interessieren sie die Blitze, wenn sie vom Boden reden, sprechen sie vom Schwanken. Wenn sie den Himmel betrachten, denken sie zurück. Dass sie erstaunlich wenig über Pläne sprechen, hat gewiss damit zu tun, dass in diesem tätigen Leben das Leben schon der Plan selbst ist.
Ich kann mich an keinen Besuch bei den beiden erinnern, an dem wir nicht früher oder später zu der Frage unserer Verantwortung kamen. Wir sehen in den schwarzen Gewitterwolken die Schwalben kreisen und teilen uns die tiefen Sorgen und die großen Fragen mit. Was treibt uns, dass wir es hier so treiben, wie wir es treiben? Was treibt mich, was treibt dich? Warum stehen wir hier und können nicht anders?

Wer in dieses Haus gebeten wird, erlebt heilige Momente. Zum Beispiel wenn Robert im Atelier, umgeben von seinen still-erregten Figuren, aus staubigen Schubladen die Postkarte oder das Buch herauskramt, dann über die Brille sehend, das gefundene Foto prüft und wie ein fröhlicher Jäger lacht. Oder: Wenn Barbara ins Obergeschoss steigt und zwischen den farbschattigen Zeichnungen und erwartungsvollen Rahmen das richtige Buch sucht, das uns weiterbringen wird. Und während sie es sucht, liest sie uns schon daraus vor. Wenn es dann da ist, zeigt sich, dass ihre Nacherzählung fesselnder war, als die Erzählung selbst. Oder: Wenn die klugen Salate unter dem südlichen Berliner Himmel aufgetragen werden. Oder: Das wunderbar zögernde Lachen von Barbara, das mich oft mehr verstehen ließ, als so manche kühle Beweisführung. Bei Barbara und Robert konnte ich lernen, dass Schweigen auch eine effektive Form des Verstehens sein kann.

Barbara und Robert sind fabelhafte Gastgeber, denen die Zeit auf wundersame Weise wenig anhaben konnte. Sie bleiben sich und einander und uns treu. Sie haben beide die seltene Gabe, das Lächerliche zu belächeln und das Erhabene zu beschweigen.

Wer als Künstler in den Fünfzigerjahren hier in diesen Gegenden – zwischen Rügen und Sachsen – aufgewachsen ist, wurde von der Geschichte auf besondere Weise geprüft. In diesen Gegenden gab es eigentlich nie eine Zeit, in der die Erde nicht bebte. Das Gehen auf schwankendem Boden macht die Gehenden geschickt. Das Erdbeben vor zwanzig Jahren kam für Leute dieses Schlages nicht überraschend.
Das Grollen der kommenden Erdbeben, haben Barbara und Robert schon in der Zeit der Nachbeben vernommen.

Der Fatalismus der Geschichte lässt sich immer lustig beschreiben, wenn man gerade nicht selbst bis zum Scheitel in dieser Geschichte steckt. Jetzt, wo sich der Staub der ersten Beben etwas gelegt hat, und wir unsere Kleider ausbürsten, knackt es schon wieder im Gebälk. Die drängenden alten Fragen wurden wieder nicht beantwortet. Was wird aus unseren Kindern? Was soll das alles? Und was machen wir hier? Und warum? Und mit welchem Recht?

Ein Berliner Müllwerker – so konnten wir es vor 15 Jahren im „Freitag“ lesen – hat zum Zusammenbruch des vorläufig letzten utopischen Entwurfs 1989 den buchenswerten Satz gesagt: Eigentlich hat sich nüscht jeändat. Außer die Gesellschaftsordnung.

Weil sich eigentlich nüscht jeändat hat, sind Barbara und Robert gut vorbereitet auf alles, was da kommt. Oben bleibt oben und unten bleibt unten. Das zu ändern, braucht es eine noch unbekannte, noch nie dagewesene List.

Barbara und Robert beobachten aufmerksam die Zeitläufte und sehen, dass das Boot seit Ewigkeiten schief liegt. Den gewaltigen Spagat zwischen Teilnahme und Separierung haben sie lange geübt. Er hat ihnen nicht nur als Künstler gedient. Ihre geschickt ausbalancierte Widerständigkeit gegen die zeitgeistige Dummheit und den modischen Fatalismus ist gut trainiert.
Eigentlich hat sich nüscht jeändat.

Das antike Urbild des Labyrinths war der Knossos-Palast auf Kreta. Es hatte tausend Zimmer. Die Zimmer waren so gebaut, dass mittags die kühle nördliche Luft in die südlichen Zimmer und abends die warme südliche Luft in die nördlichen Zimmer strömte. Hier kann es ein kluger Minotauros aushalten. Aber dann kam der Tag, als der listige Theseus das Labyrinth betrat, und den Minotaurus mitsamt dem klugen Palast auslöschte. Seitdem frieren und schwitzen wir und haben vergessen, wie ein richtiges Haus gebaut werden muss. Ariadne hatte Theseus einen langen Faden mitgegeben. Der Faden war mit Blut gefärbt.
Eigentlich hat sich nüscht jeändat.

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