25. März 2012: Hase nach links, Hase nach rechts. Eröffnung der Ausstellung von Elli Graetz in der Klostergalerie Zehdenick
Am 8. Februar besuche ich Elli Graetz.
Was für ein schöner Mittwoch!
Ich fahre nach Norden.
Die Sonne geht durch die Wälder.
Aus nervös gezackten Zweigen werden gewaltige Kirchenfenster.
Die Augen der gefrorenen Seen spiegeln den Himmel. Die Wimpern sind Schilf.
Die Ackerfurchen sind Linien in einem Schreibheft.
Die Feldsteine sind die Buchstaben.
Das Land ist flach und tief und weit.
Mir ist, als hätte ich das alles schon in den Bildern von Elli gesehen.
In seinem Roman „Auslöschung“ sagt Thomas Bernhard:
„Mit der Erfindung der Fotografie beginnt der Untergang der Menschheit.“
Im Publikum sind Fotografen. Ich weiß.
Die maschinelle Spiegelung war im Schöpfungsplan nicht vorgesehen.
Nun ist es aber anders gekommen.
Seit hundertfünfzig Jahren haben wir Spiegelmaschinen.
Wir trauen unseren eigenen Augen nicht mehr.
Die Fotografie hat das Sehen übernommen.
Und wir haben es ihr überlassen.
Wie alle Maschinen hat auch die Bildermaschine einen tödlichen Hang zur Überproduktion.
Die Bilder verlieren an Wert. Bilder verschlingen Bilder verschlingen Bilder verschlingen Bilder.
Spätestens mit van Gogh haben die Künstler ihre Lage begriffen.
Sie konnten machen, was sie wollten. Niemand glaubte ihnen mehr.
Selbst auf den Kunsthandel – van Gogh ist ein klassisches Beispiel – war kein Verlass mehr.
Das Klügste, was die Künstler tun konnten, taten die Klügsten; sie räumten das Feld und stiegen auf den Berg. Ein Berg ist kein Elfenbeinturm. Der Anstieg ist mühsam, die Luft ist dünn – es ist kühl da oben – aber der Ausblick ist lohnend.
Mit Ingrimm und geringen Kräften setzen die Künstler seitdem der Bildervernichtung ihren schwachen Widerstand entgegen.
Hoch oben auf dem Berg schaffen sie Bilder, die niemand bestellt, die niemand braucht und die niemand vermisst.
Die Langsamkeit ihrer Produktion ist eine Provokation.
Ihre subjektive Weltsicht ist dem objektivierenden Bildergeschäft unzumutbar.
Die Künstler wissen, dass ihre Arbeit unverwertbar ist.
Sie kümmern sich um das Nichtverwertbare.
Das gibt ihnen eine Freiheit, die sie vordem nicht hatten.
Sie retten zuallererst sich und ihre Bilder.
Sie müssen keine Dienste leisten, sie liefern keine Illusionen mehr, sie dienen keiner Ideologie, sie verweigern den fotografischen Blick, sie entziehen sich den verwertbaren Zwecken.
Das einzige Risiko, das sie tragen, ist die Gefahr des Verhungerns und des Wahnsinns.
Wenn das keine Freiheit ist, weiß ich nicht, was Freiheit ist.
Elli Graetz ist eine, die sich mit dieser Freiheit gut auskennt.
Ihre Arbeiten zeigen es.
Sie nimmt sich heraus, was sie sich herausnimmt.
Sie eignet sich den Teil der Welt an, der ihr zu eigen ist.
Sie lebt einen Luxus, den die meisten Zeitgenossen sich nicht leisten:
Sie spricht mit eigener Stimme.
Hier gibt es kein vorsätzliches Bilderprogramm.
Das Programm, das hier sichtbar wird, heißt Persönlichkeit.
Elli musste nicht beschließen, ihrer Wahrnehmung zu trauen.
Sie wusste schon sehr früh, was das Eigne und was das Fremde ist.
Die Arbeitsweise von Elli Graetz ist verblüffend einfach und traumhaft kompliziert.
Sie leitet das Material und lässt sich vom Material leiten.
Das Material darf die Aura, die es mitbringt, behalten.
Die Elemente werden nicht mit Gewalt hingebogen. Sie dürfen selbst erzählen.
Das Holz, das Eisen, das Papier und das Linoleum geben die tieferen Strukturen und Kräfte aber nur heraus, wenn intensiv mit ihnen gesprochen wird.
Du darfst nicht lockerlassen. Du brauchst Zeit.
Mit dem Brecheisen und der Stoppuhr wird das nichts.
Goethe – der vom Leiten und Geleitetwerden einiges versteht – sagt den Künstlern: „Gehe vom Häuslichen aus und verbreite dich – so du kannst – über die Welt.“
So du kannst!
Das Häusliche meint natürlich nicht das tödliche Reihenhaus, nicht den ängstlich gezimmerten privaten Verschlag. Das Häusliche meint die ureigene Wurzel, die nicht teilbare Erfahrung.
Und Elli folgt dem Rat und geht vom Häuslichen aus.
Im Alltäglichen entdeckt sie das tiefere Gesetz einer anderen Ordnung.
Das Holz wird Figur und bleibt Holz. Das Holz wird Landschaft bleibt Holz.
Das Holz wird nie wieder das Holz, das es vordem war.
Alte Kontexte lösen sich auf, neue entstehen.
Dem geschulten Blick entgeht nichts. Flecken werden zu ausdrucksstarken Zeichen.
Erste Ordnungen werden zu zweiten, Unwichtiges wird wichtig und Nebensachen werden Hauptsachen.
Hier ist offensichtlich eine Hexe am Werk. Sie kann Stroh zu Gold spinnen. Manchmal lacht sie auf eine geheimnisvolle Art. Dieses Lachen gibt ihrem Tun eine verblüffende Leichtigkeit. Damit kann sie alberne Fragen wegwischen und schwere Fragen ins Leichte übersetzen.
Elli operiert nicht mit geheimnisvollen undurchsichtigen Effekten. Es gibt keine Betriebsgeheimnisse. Jeder kann sehen, was sie macht. Alles bleibt durchschaubar.
Diese Arbeiten geben, so scheint es, freimütig Bericht vom Herkommen.
Aber das Geheimnis, das in diesen ausdrucksvollen Bildern steckt, bleibt Ellis Geheimnis
Mitte Februar schrieb ich an Elli:
Kannst Du mir ein paar Titel Deiner Arbeiten nennen? Titel sind hilfreich, sie verbinden Intention und Impuls. Heute hat in der Dämmerung schon eine Amsel gesungen.
Elli antwortete:
Oh! Was fällt mir da ein? Außer Köpfe; musikalischer Kopf, Blätterkopf, Nasenkopf, dann gibt es noch Balance und Begegnung, Vergänglichkeit und Wintermond, Todesengel und Ikarus, Steine am Wasser und Steine im Garten. Dann: Hühner, Raben, Elefanten Katzen und Hasen. Hase nach rechts, Hase nach links.
Hase nach rechts, Hase nach links.
Bevor das Jahrzehnt zu Ende ist, muss diese Zeile unbedingt in Stein gemeißelt werden.
Hase nach links: Nicht alles, was die Künstlerin macht, hat sie gesehen.
Doch alles – Hase nach rechts – was sie macht, hat sie erlebt.
Mit sanfter Unnachgiebigkeit übt Elli Druck aus.
Und zwar wortwörtlich.
Nur unter Druck geben die Elemente heraus, was in ihnen steckt.
Nur unter Druck werden sie von Engeln und mythischen Figuren berichten.
Uralte Bretter und riesige Fetzen von Linoleum werden durch die Handpresse genudelt und müssen preisgeben, was die sanfte Frottage nie herausrücken würde.
Die urwüchsige Kraft und der Widerstand eines Materials kommen zum Vorschein. Wir sehen den unmittelbaren Ausdruck, das scheinbar Unreflektierte, das Wesen und sogar die Persönlichkeit eines Materials.
Wie der Bildhauer die im Stein schlummernde Figur befreit, legt Elli die Persönlichkeit einer Oberfläche frei.
Mit den formstarken Collagen verfährt sie ähnlich. Jedes Material klingt für sich. Aber der Nachdruck und die Energie mit denen die unterschiedlichen Elemente in neue Verhältnisse gezwungen werden, ergibt eine Orchestrierung, die eben nicht die Summe aller Töne ist. Es entsteht ein neuer Klang.
Es entsteht ein Dazwischen.
Hase nach rechts, Hase nach links. Hase dazwischen.
Elli beutet die ausrangierten Gegenstände und verworfenenen Elemente nach Kräften aus und gibt ihnen damit gleichzeitig ihre Würde zurück.
Die Künstlerin praktiziert mit großer Sicherheit das Wechselspiel von Zwang und Freiheit. Dieses Paradoxon ist die Basis jeder Kunst.
Am märkischen Dagowsee steht das schöne Haus von Elli und Jürgen Graetz. Der mythenbeladene Stechlinsee liegt gleich um die Ecke. Das Tor steht offen. Ich betrete den Hof. Kein Mensch ist zu sehen. Ich gehe in den Garten. Unter den Obstbäumen stehen Zauberfiguren. Die Tür zum Atelierhaus ist unverschlossenen.
Ich begrüße alte und neue Bekannte und sie begrüßen, wie es scheint, auch mich.
Auf Sockeln, einzeln und in Gruppen, erwarten sie still bewegt den Betrachter.
Die großen Drucke leuchten dunkel unter Glas.
Christa Sammlers monumentaler Porträtkopf zu Elli wacht über die Schätze.
Der beseelte Schrott dreht und windet sich im blauen Winterlicht.
In dieser Hexenküche wird gezaubert.
Du musst verstehn!
Aus Eins mach Zehn,
Und Zwei lass gehn,
Und drei mach gleich,
so bist du reich.
Hier wächst zusammen, was nicht zusammengehört.
Hinfälliges Material wartet auf die Rückgabe seiner Würde.
Wer in diesen Jungbrunnen steigen darf, kann hoffen, an formstarken Bildern mitzuwirken.
Die hinfällige rostige Sprungfeder wird geduldig beobachtet und dann im entscheidenden Moment auf ein sorgfältig gewähltes Podest gestellt. Nun ist sie eine Tänzerin, der das Alter nicht mehr feindlich ist.
Jetzt sehen auch wir ihre zu Herzen gehende Anmut.
Damit du sie siehst, musst du allerdings einen Schritt zurücktreten.
Nicht die Nase hineinstecken. Unbedingt Abstand halten.
Verletzt du die Aura, bekommst du nichts heraus.
Das geschundene Linoleum wird ein beseelter Frauenkopf und aus dem astigen Holz sehen uns wilde Tiere an.
Vor nicht allzulanger Zeit wurde Elli in Berlin geboren. Hinein in eine bewegte, von den grausamen Brüchen des 20. Jahrhunderts geprüfte Familie. Couragierte und widerständige Frauen bilden den Stamm der Familie. Wir können ihren Porträts in dieser Ausstellung begegnen. Wer in einer solchen Familie aufwuchs, hat in Drachenblut gebadet.
Als 1989 die Neue Zeit im Freiheitskostüm und fackelschwingend im Türrahmen stand, konnte Elli nur lachen. Es war dieses berühmte entwaffnende Auflachen.
Elli hatte längst ihren Teil von der Freiheit für sich definiert.
An diesem schönen Februarmittwoch gibt es Tee und heißen Apfelstrudel in der Küche am See. Wir sprechen über das Vergangene und das Kommende. Wir erinnern uns an unsere gemeinsame Zeit in der Kunsthochschule. Wir sprechen von den Eltern, den Enkeln und den Kindern. Wir reden wohltuend wenig über Kunst.
Bevor ich wieder nach Berlin muss, will ich unbedingt noch auf den vereisten Dagow-see. Ich rutsche wie Jesus auf dem See herum. Ich sehe von weitem Ellis Hexenküche zwischen den krummen Bäumen. Die Sonne verschwindet hinter dem Ufer. Eine Katze schleicht durch das dämmrige Schilf. Hase nach links. Hase nach rechts.
Wo nur habe ich das schon einmal gesehen?