Franz ZauleckZaulex.de

15. September 2012: Es muss im Leben mehr als alles geben. Eröffnung der Ausstellung von Hannelore Teutsch und Reinhard Jacob in Eisenhüttenstadt

1.
Es hatte ein Mann einen Esel, der ihm schon lange Jahre treu gedient hatte. Dessen Kräfte gingen aber nun zu Ende, so dass er zur Arbeit nicht mehr taugte. Da wollte ihn der Herr aus dem Futter schaffen. Der Esel merkte, dass kein guter Wind wehte. Er lief fort...

2.
Während ich über das Gelesene nachdenke, klingelt das Telefon. Ich stecke knietief in den Vorbereitungen zum Weihnachtsmärchen im Puppentheater. Diesmal – jeder hat es erkannt – darf ich dabei sein, wenn den Bremer Stadtmusikanten auf die Magdeburger Bühne geholfen wird.
Ich bin ganz Esel und frage müde ins Telefon: »Hallo?«
Hannelore Teutsch ist am Apparat. Sie bittet mich freundlich, und auf unnachahmliche Art überrumpelnd, ihre und Reinhard Jacobs gemeinsame Ausstellung zu eröffnen.

3.
Diese Anfrage ehrt mich! Ich mag die beiden. Ich bewundere ihre Arbeiten. Ich beobachte mit Respekt, wie sorgfältig und hartnäckig sie sich ihre Positionen erarbeiten, sie ausformen und an das Publikum herantragen. Ich zögere mit der Zusage, weil ich die knappe Zeit mit Esel, Hahn, Hund und Katze teilen muss. Aber dann zerschlage ich die Bedenken. »Wenn du über vier Leute nachdenkst«, sagt der Hahn; » ist auch Platz für sechs.«

4.
Vorn geht der Esel. Danach kommt der Hund. Dann die Katze, gefolgt vom Hahn. Und nun gesellen sich noch die Frau des Bildhauers und der Mann der Malerin dazu. - Eine bunte Reisegesellschaft. Ich gehe hinterdrein.
Alle Reisenden träumen vom Neuen Jerusalem. Die einen nennen es Bremen, da soll man vom Musizieren leben können. Die anderen nennen ihr Jerusalem Malerei und Skulptur und meinen die Kunst, ohne die sie nicht leben könnten.

5.
Das Haus der Malerin und des Bildhauers steht in einem träumerischen Garten. Vor dem Haus unter dem Baum stehen Tisch, Stühle und eine Bank.
Genügend Platz für Tiere und Menschen. Platz für feines Essen, gute Worte und neugierige Fragen.
Nun ist es schon Ende August.
»Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.«
Die Abenddämmerung bricht herein – die Stunde zwischen Wachsein und Träumen. Die Stadtmusikanten sind müde und setzen sich in die Runde.
Sie lauschen den wundersamen Gesprächen von Geschichte und Gestus, von Pathos und Politik und von Schönheit und Schein.

6.
Die Stadtmusikanten verstehen alles.
Der Esel darf hören, dass er nicht der einzige ist, der schuften muss.
Der Hund vernimmt Geschichten von Maulkörben und Leinenzwang.
Die Katze registriert mit Freude, dass ab und an von Mäusen die Rede ist.
Und der Hahn lächelt müde, beim Anhören der unsterblichen Geschichten von Kikeriki und Flügelschlag.

7.
Das Haus, das der Frau des Bildhauers und dem Mann der Malerin Obdach bietet, ist ein Traum, wie das Haus der Räuber. Vom Keller bis zum Dach ist es gefüllt mit Schätzen jeder Art. Der Küchentisch biegt sich von Brot und Fisch und goldenem Wein. An den Wänden hängen funkelnde Bilder und die Skulpturen werfen zauberische Schatten gegen die Wände.

8.
Hannelore und Reinhard – die Malerin und der Bildhauer – sind weite Wege über schwankenden Boden gegangen, bis sie endlich diese Bleibe finden durften. Eines schönen Tages vor vielen Jahren trafen sie an einem Kreuzweg aufeinander und da beschlossen sie, gemeinsam dem Licht im Wald zu folgen. Unsere Tiere kennen Kreuzwege und deren Rolle im Schicksalsgetriebe und könnten einiges davon erzählen.

9.
Kreuzwege sind keine Kreuzungen. Bitte nicht verwechseln. An Kreuzungen treffen nur Trampelpfade aufeinander. Hier stehen Ampeln. Bei Rot bleibe stehn. An Kreuzungen triffst du keine Seele. Willst du eine Seele treffen, musst du den Trampelpfad verlassen und Umwege gehen.

10.
Umwege sind – das wissen die Malerin und der Bildhauer – die wichtigsten Straßen. Auf Umwegen musst du Augen, Ohren und Nase offen, den Mund aber geschlossen halten. Es geht durch dorniges Gestrüpp und salzige Wüsten. Wilde Tiere, Luftwurzeln und rollende Steine erfordern Wachheit und Geschick. Glitschige Felsen und schwankender Boden schärfen die Sinne und stählen die Muskeln.

11.
Das entleerte Gerede vom Weg, der das Ziel sein soll, ist von Eduard Bernstein geborgt. Geborgt ist nicht erworben. Mit Vorliebe plappern so etwas die nach, die immer auf der Autobahn unterwegs sind. Die Malerin und der Bildhauer meiden solche Formeln – schon allein, weil sie die elementaren Fragen mit großem Ernst stellen. Was ist ein Ziel? Was ist ein Weg? Weiß das jemand?

12.
Die Malerin konnte auf den vielen Umwegen viel von sich lernen und über sich erfahren. Sie begann als Typografin und Illustratorin und ist zur Zeit und hier als Malerin unterwegs. Auf die Frage, ob das ein Ziel sei, Malerin zu sein, würde sie mit freundlichem Lachen antworten und sagen: »Lass uns am Abend darüber sprechen, wenn die Dämmerung das Malen verbietet.«

13.
Der Bildhauer geht auf vergleichbare Weise Umwege. Zur Zeit ist er unter anderem von experimentellen Forschungen zur malerischen Fläche erfüllt. Das Paradoxon ist sein Element. Seine Wege gehen von der Skulptur zur Fläche und dann von der Fläche wieder zurück zur Skulptur. Eines ist nicht ohne das andere zu haben. Du kannst nicht zweimal in den selben Fluss steigen.

14.
Die Kunst ist im Kern das Geschäft von Einzelgängern. Die lustigen Künstlerbälle und fröhlichen Kunstvereine täuschen gern darüber hinweg.
Die Existenz von Malerinnen und Bildhauern wurzelt im Boden des Selbstgesprächs. Des Künstlers Suche nach dem ureigenen Auftrag ist ein einsamer Prozess.

15.
Das Einzelgängertum der Künstler ist Ursache für die Sehnsucht nach Bündnissen. Spätestens dann, wenn Einzelgänger sich in den ersehnten Bündnissen wiederfinden, müssen sie die Veränderung ihrer professionellen Existenz geschickt ausbalancieren. Das ist ein riskantes Manöver. In den Klippen des Widerspruchs ist schon manches fröhliche Schiffchen zerschellt. Die Rosenkriege im Land der Künste hinterlassen Schlachtfelder auf denen lange nichts mehr wächst.

16.
Die Künstlerfreundschaft ist in der Regel ein Tarnname für das taktisch-subtile Unterfangen, sich den Konkurrenten vom Hals zu schaffen.
Befreundete Kollegen drücken einander so lange ans Herz, bis einem von beiden die Luft ausgeht. Der Überlegene windet dem Unterlegenen Lorbeer ins Haar, stellt den Fuß auf den Erlegten und malt in schönen Buchstaben über die Fotografie das Wort »Künstlerfreundschaft«.

17.
Goethe und Schiller sind zum Kitschbild erstarrt. Die erbitterten Konkurrenten stehen nun als ewiges Liebespaar auf dem Weimarer Theaterplatz. Wer das Standbild kritisch betrachtet, sieht, dass der Platz auf diesem Sockel für zwei Mannsbilder zu klein ist. Macht Goethe einen halben Schritt nach rechts, rumpeldipumpel, ist er unten. Macht Schiller einen halben Schritt nach links, droht – schnippschnapp – dasselbe. Beide drängen in die Mitte. Schiller strebt nach rechts und Goethe nach links. Im Zentrum ist der Lorbeerkranz. Daran halten sich beide fest. Wie Passagiere an Haltegriffen, wenn sich die Bahn in die Kurve legt.

18.
Finden vier Tiere in einem Haus Schutz, begeben sie sich unter ein Dach.
Das ist für die Tiere ein Segen. Sie bekommen einen respektablen Namen. Jetzt dürfen sie den Familiennamen unter den Klingelknopf schreiben: »Die Bremer Stadtmusikanten«

19.
Begeben sich Malerin und Bildhauer unter ein Dach, muss auf dem Türschild »Zwei Künstler in einem Haus« stehen. Die Leute lesen das Schild und schütteln die Köpfe. »Zwei Künstler in einem Haus! Wie soll das gehen?«
»Wenn Liebe im Spiel ist, wird das gut gehen«, sagt die Katze.
Die Liebe ist – da hat die Katze Recht – ein starkes Elixier.

20.
Auf der Suche nach einem Wort, das diese paradoxe Existenz, auf einen akzeptablen Begriff bringt, lasse ich die Worte »Zwiegespräch« und »Dialog« links liegen. Im Wort »Zwiegespräch« ärgert mich das »Zwie«, das schon der Zwietracht und dem »Zwielicht« diente. Der Terminus »Dialog« ist ausgelaugt, den hat der Krieg 89/90 restlos verheert.
Ich suche und finde das vollkommen aus der Mode gekommene Zauberwort »Korrespondenz«. Das trifft es. Das leise Klirren von Teetassen, das ich vernehme, wenn ich »Korrespondenz« sage, kommt mir zupass.
Korrespondenz erlaubt Abstand und gewährt Nähe. Korrespondenz garantiert Respekt und gestattet Teilnahme.
Die Spielregeln der Korrespondenz sehen sowohl Öffnung als auch Rückzug vor. Mitteilung ist Teilung. In der Korrespondenz riskieren beide Seiten beim Spinnen des Fadens nicht die Verstrickung.

21.
»Interessant!«, sagt der Esel. »Hätte eine Korrespondenz mit dem Müller meine Lage vielleicht verbessert?«
Wenn das eine ernsthafte Frage ist, lautet die Antwort: »Natürlich nicht. Korrespondenz ist in Ausbeutungsverhältnissen undenkbar. Korrespondenz setzt Freiheit voraus. Freiheit auf beiden Seiten. Nur in der Freiheit kann man sich auf gemeinsame Nenner einigen.«

22.
»Aber was«, fragt die Katze, »ist denn nun der gemeinsame Nenner? Ist es das Schnurren?«
»Oder«, ruft der Hahn, »ist es vielleicht der Hahnenschrei?«
Es ist das Schnurren und auch der Hahnenschrei. Und noch viele andere wichtige Sachen. Der hauptsächliche gemeinsame Nenner ist, so behaupte ich, der Einklang.
»Aha«, sagt der Esel, »I und A werden zu Ia!«
Diese Definition ist anschaulich aber simpel. Im Falle von Hannelore Teutsch und Reinhard Jacob, ist Einklang die Fähigkeit Widerstreitendes und Gemeinsames so zu verknüpfen, dass die Produktion von Bildern nicht nur nicht behindert, sondern auch angefeuert wird.

23.
Zum Leben im Einklang gehört unermesslich vieles. Vor allem aber gehört dazu, das gemeinsame Interesse, vergnüglich über Menschen und Dinge nachzudenken. Es ist eine Lust mit Hannelore und Reinhard über Gott und die Welt zu sprechen. Schopenhauer und Nietzsche und Heiner Müller, Karl Mickel und Erich Arendt, Peter Huchel, Werner Stötzer, Gustav Seitz, Kurt Robbel, die vielen Großen schauen aus ihren Wolken herab. Sie geben das eine oder andere Stichwort und helfen gern mit der einen oder anderen Erfahrung aus.

24.
Hannelore und Reinhard sind Bilderphilosophen. Die Gespräche mit den Ahnen setzen sie in ihren Versuchen und Experimenten fort. Sie schleppen große Themen in ihre Ateliers. Es geht – schlicht zusammengefasst – um Sein und Nichtsein. Wer sich mit solchen Themen umgibt, kommt nicht in die Verlegenheit über Mode und Stil nachzudenken. Stil ist nicht die Entscheidung für eine Manie. Stil ist die Entscheidung für einen Blickwinkel, von dem aus die Welt betrachtet wird.

25.
Sowohl Hannelore als auch Reinhard sind im Experiment zuhause.
Sie führen das Material, um dann von ihm geführt zu werden.
Die Frage, welches Material die ideale Qualität liefert, um die Welt zu adäquat zu spiegeln, treibt die beiden um. Sie befragen – Hannelore auf ihre, Reinhard auf seine Weise – die alten und die neuen Techniken und versuchen sie für das Nochniedagewesene dienstbar zu machen. Sie verbringen viel Zeit damit, die Materie zu verfeinern, damit sie das Licht intensiviert und vergeistigt widerspiegelt.

26.
Wer gesehen hat, wie Reinhard Jacob die Tafeln der Farbproben und Materialexperimente in Händen hält und wer ihm zuhört, wenn er im Gestus eines Alchimisten von Natur und Geist des Materials spricht, bekommt einen Begriff von der Intensivierung seines Verhältnisses zur Welt.
Wer Hannelore Teutschs unermüdliche Versuche gesehen hat, mit verschiedensten Techniken ihren Bilderfindungen den gesteigerten Ausdruck zu verleihen, sieht, wie Material Geist und wie am Ende Geist Material wird.

27.
Risikofreude ist ein kardinales Kriterium für Begabung. Hannelore und Reinhard sind quasi im Risiko zu Hause. Sie verlassen permanent gesicherte Räume, um unablässig Türen zu unbekannten Sälen zu öffnen.
Als die Illustratorin und Typografin Hannelore Teutsch eine respektable Professionalität erreicht hatte, verwandelte sie sich scheinbar mühelos in eine Malerin.
Als die Skulpturen des Bildhauers Reinhard Jacob den selbst gesetzten Ansprüchen gerecht wurden, begab er sich scheinbar mühelos in das Fach der Flächengestaltung am Bau.

28.
Die beeindruckenden Arbeiten, die wir heute und hier bewundern dürfen, sind – behaupte ich – Reisebilder. Bilder von Reisenden. Beide, Hannelore und Reinhard, sind immer noch sehr unterwegs. »So, wie wir«, sagt der Esel.
»Das ist«, sagt die Katze, »kein zulässiger Vergleich.«
»Wieso nicht?«, fragt der Hund. »Wir nennen uns zwar Musikanten«, sagt die Katze, »aber sie machen Musik.«

29.
Die Malerin und der Bildhauer gründeten vor einigen Jahren eine Ateliergemeinschaft und gaben ihr den Namen PAN. Die drei Versalien P und A und N stehen für die Abkürzung der programmatischen Grundpfeiler ihrer Arbeit.
P steht für Professionalität, A steht für Architekturbezogenheit und N für Noblesse. P. A. N.
Dass die drei Buchstaben den Namen des ziegenbeinigen und gehörnten Halbgottes Pan ergeben, ist ein wundersamer programmatischer Einfall.
Der liebestolle Pan, Sohn des Merkur und der Nymphe Dryops, kennt den Wald, in welchem alle Reisenden umherirren. Wenn sie bei seinem Anblick panisch werden, trifft ihn keine Schuld. Er will – wie sie – nur Liebe. Deshalb macht er – wie alle – Musik.

30.
Von Maurice Sendak gibt es einen wunderbaren Wahlspruch: »Es muss im Leben mehr als alles geben.« So soll es sein: Mehr als alles! Und in diesem Leben! »Billiger sollten wir es nicht machen!«, rufen die Stadtmusikanten.
Hannelore Teutsch und Reinhard Jacob zeigen uns beeindruckend anschaulich, dass es zu machen ist: Es muss im Leben mehr als alles geben.

weiterlesen