13. Juli 2012: Was nicht da ist, wird nicht vermisst. Laudatio für Gerhard Oschatz im Schloss Hohenschönhausen
1.
Zwei Damen aus dem Hessischen hätten sich um ein Haar in die Kunstgeschichte eingeschrieben. Die Episode ist bekannt und auf tiefsinnige Weise lustig. An einem Sommerabend – es ist nicht lange her – kam die eine der beiden mit Schrubber und Eimer ins Fridericianum. Sie stellte den Eimer ab, stützte sich auf den Schrubber und fragte mit Blick auf einen Berg von verknoteten Starkstromkabeln: »Ist das Kunst? Oder kann das weg?« Die andere Dame rasselte mit den Schlüsseln und fiel in Ohnmacht.
2.
Als die Schlüsselträgerin aus der Ohnmacht erwachte, hat sie sich die Frisur gerichtet und der Putzfrau eine Belehrung erteilt. So wird es gewesen sein.
Was wäre aber, wenn die Aufsicht gesagt hätte: »Das kann weg.« Dann wäre das Kabelknäuel bei Sonnenaufgang weg gewesen. Die kunstbetrachtende Menschheit hätte nicht zitieren, interpretieren, kopieren, einordnen und ausordnen müssen. Und das Feuilleton hätte einer schönen Zeichnung Platz gemacht.
3.
Die beiden Damen hielten an jenem Sommerabend quasi die Hebel der Kunstgeschichte in Händen. Sie haben sie nicht umgelegt.
4.
Gerhard Oschatz hat für diesen gewaltigen Komplex von Fragen mit allen seinen philosophischen Verästelungen einen goldenen Satz geprägt. Er lässt die Stimme sinken und sagt, so kühl wie möglich: »Was nicht da ist, wird nicht vermisst.« Ich bin ein dankbarer Bewunderer von immergrünen Oschatz-Sätzen. Dieser ist mir ans Herz gewachsen. Ihn habe ich mir zu eigen gemacht. Gerhard hat sich großzügig gezeigt. Er verlangt keine Tantiemen dafür.
5.
Vasari erzählt eine Geschichte von Michelangelo, der mit seinen Malerkumpanen einen Wettbewerb um die schlechteste Zeichnung führte.
Die Palme errang Michelangelo mit einer fulminanten Klozeichnung.
Als bester Zeichner konnte er natürlich auch die beste schlechte Zeichnung verfertigen.
6.
Die Tatsache, dass es diese Zeichnung nicht mehr gibt, liefert den Beleg, dass Michelangelo die Moderne für verfrüht hielt. Mit den Worten, »Was nicht da ist, wird nicht vermisst«, hat er seine Krakelei in der Latrine auf den Nagel gespießt.
Nur weil Vasari nicht dicht halten konnte, vermissen wir das Blatt nun sehr.
7.
Morgen, am 14. Juli, jährt sich zum x-ten Mal der Tag, an dem die Franzosen auf die Frage »Kaffee oder Tee?« antworteten: »Liberté!«
Diese Antwort – es ist mit Händen zu greifen – hat vor allem die Künstler in fundamentale Ratlosigkeit gestürzt.
Joachim Gauck, der Wiedertäufer im Präsidentenamt, würde an dieser Stelle nach Luft schnappen und dann, ähnlich wie die Kasseler Aufsicht, in Ohnmacht fallen.
Für Künstler brachte die herbeigeflehte Freiheit eine Krise, die mit dem Abend in Kassel ihren Zenit erreichen sollte. Die Künstler irren seitdem vogelfrei durch die Jahrhunderte, etwa so wie die Leibeigenen durch Russland liefen, als Zar Alexander ihnen großmütig die Herren wegnahm.
8.
Ein namhafter Scherzkeks hat im Trubel des Mauerfalls Schillers »Freude schöner Götterfunken« zu »Freiheit schöner Götterfunken« verballhornt.
In wirren Zeiten reden Leute wirres Zeug. Da sollten wir nicht so streng sein.
Heute sind wir dankbar, dass das schöne Stück wieder »Ode an die Freude« heißen darf.
9.
In den letzten Jahren macht ein anderes Schillerwort auffallend vermehrt die Runde. Es prangt – herausgenommen aus den Zusammenhängen – auf Spruchbändern an den Kunsttempeln des Landes. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. In roten Lettern, groß wie Wagenräder, ist darauf gepinselt: »Die Kunst ist die Tochter der Freiheit«.
Die Auftraggeber dieser feinen Propaganda sind Kulturverwalter mit Pensionsanspruch. Sie leben in der Welt, die sie sich mit Fleiß eingerichtet haben. Und sie leben gut darin. Die Freiheit, die sie meinen, übersetzen sie mit dem schönen Wort »Freiheitliche Grundordnung«, da darf die Kunst gern Tochter sein.
10.
Wenn überhaupt jemandes Kind, dann ist die Kunst die Tochter der Künstler.
Die stehen im Morast der realen Existenz und versuchen das Pulver trocken zu halten. Die Kunst wohnt im Herzen, im Geschlecht und im Gehirn der Künstler. Es gibt keine bessere Wohnung.
11.
Gerhard Oschatz, der Müllerssohn, nennt sich manchmal – augenzwinkernd – ein thüringisches Bäuerlein. Ich zwinkere zurück und nenne ihn – wenn schon von Revolutionen die Rede ist – einen Jakobiner.
Frère Gerard! Auch, wenn die meisten abgeschnitten wurden, waren die Jakobiner immer die besten Köpfe. Träumende Radikale, radikale Träumer. Thüringische Bäuerlein dürfen mitmachen. Sie müssen nur Gerechtigkeitssinn, Feingeist und Wahrheitsdurst mitbringen. Diesen Sinn, diesen Geist und diesen Durst hat Gerhard Oschatz viel und reichlich. Die alberne phrygische Mütze, trägt er selbstverständlich nicht. Allerdings zeigt er manchmal andere geheimbündlerische Zeichen. Regelmäßig unregelmäßig leuchtet eine kleine karierte Krawatte an seinem Kragen. Da ich den jakobinischen Kalender nicht kenne, bin ich jedes Mal überrascht, dass sie da ist und dann wieder nicht.
13.
Für jakobinische Künstler gilt der erste Merksatz: Die Ästhetik ist obszön und das Obszöne ist ästhetisch. Die konsequente Empörung über die herrschenden Verhältnisse treibt Leute dieses Schlages in diese Konsequenz. Die Entscheidung, ob er darüber weint oder ob er darüber lacht, bleibt dem Künstler überlassen. Gerhard Oschatz hat sich für das Lachen entschieden. Seine Wahrnehmungen und Beobachtungen im real existierenden Prenzlauer Berg vor 1989 und danach geben der jakobinischen Flamme, die in seinem Herzen lodert, fröhliche Nahrung.
14.
In Zeiten der Raserei lebt Gerhard Oschatz ein wundersames – wie aus der Zeit genommenes – Leben. Er hat sich im vergangenen Jahr einen Computer gekauft. Aber meine Sorge, dass sich nun sein Wesen ändert, war glücklicherweise vollkommen unbegründet. Gerhards fester jakobinischer Kern macht ihn unangreifbar für oberflächliche Reize jeder Art. Wo andere in Bündnisse streben, strebt er hinaus. Die Intelligenz des Schwarms provoziert ihn, dumme Fragen zu stellen. Ins Kraut schießende soziale Netzwerke nötigen ihm nicht einmal Spott ab.
Gerhard Oschatz lebt eine autonome künstlerische Existenz. Er geht seine eigenen Wege. Er ist vollkommen frei von Neid und Eifersucht. Er ist wenig ablenkbar durch Außenreize, aber immer offen für Angebote, die ihn im Kern wirklich treffen. Er bohrt den Finger in Wunden, die niemand mehr sieht oder sehen will.
15.
Gerhard ist im doppelten Wortsinn unabhängig. Er hängt von niemandem und niemand hängt von ihm ab. Diese Autonomie ist die Voraussetzung für kostbare Fähigkeiten, die gegenwärtig auf dem Altar der digitalisierten Umverteilung irgendwelchen unaussprechlichen Göttern geopfert werden. Eine der kostbaren Fähigkeiten, die Gerhard Oschatz vorzüglich beherrscht, ist zum Beispiel die Kunst des Flanierens.
16.
Manchmal darf ich Gerhard beim Flanieren begleiten. Das begleitende Flanieren – das ist mir klar – ist ein anderes als das solistische.
Wenn Gerhard flaniert und ich mich ihm anschließe, steht zum Beispiel – es ist nicht gelogen! – ein goldenes Motorrad auf dem Trottoir. – Oder es schauen riesige Aloen, groß wie trojanische Pferde, sehnsüchtig traurig aus erblindeten Agenturfenstern auf uns nieder. – Oder schöne Frauen lassen sich von weniger schönen Männern, mitten auf dem Damm, die Haare schneiden. Die Strähnen fallen wie Gold in den Kot. Diese Bilder reflektiert der Flaneur mit aphoristischer Leichtigkeit. Er verwandelt sie in punktgenaue Merkzeichen, die so richtig philosophisch werden, wenn du sie schon in der Blutbahn hast.
Ob diese Bilder eines Tages Zeichnungen werden, ist in dem Moment nicht klar.
17.
Der Typus des Flaneurs ist mit dem Ausbruch des hundertjährigen Weltkriegs aus der europäischen Kultur so gut wie verschwunden. Ich erinnere an die letzten großen Flaneure: Harry Graf Kessler, Franz Hessel, Peter Altenberg und Egon Friedell - allesamt Jakobiner der extrafeinen Sorte.
Ein Flaneur ist kein Voyeur. Er wird gesehen, während er sieht. Er behält nicht für sich, was er aufnimmt, er teilt sich mit. Teilen ist schließlich eine jakobinische Tugend. Flaneure sind in etwa das, was die Narren im Mittelalter waren. Wer einen Narren erschlug, wurde mit dem Tode bestraft. Shakespeares Narren wird kein Haar gekrümmt.
Die munteren Leute, die in den Cafés mit der digitalen Zeitung rascheln, sind weder Narren noch Flaneure. Sie haben das morgige Casting im Nacken.
Ein Casting würde einen Narren und einen Flaneur umbringen.
18.
Wie wir uns schützend vor die bedrohte Hufeisennase oder den Juchtenkäfer stellen, so sollten wir Obacht geben, dass uns die letzten Flaneure nicht zu Schaden kommen.
Spätestens dann, wenn das Bürgertum beschließt, sich zu erneuern und zu reinigen – das wäre wirklich eine Revolution! – spätestens dann, muss es sich seiner Flaneure entsinnen und wird Gott danken, wenn es den einen oder anderen noch antrifft.
19.
Wer Gerhard Oschatz nach dem Zuhause fragt, dem wird er antworten: »Wohnhaft: Im Weder-Noch, Staatsbürgerschaft: Sowohl-als-auch.«
So spricht der Flaneur.
Um ihn herum stehen konturensichere Zeitgenossen, die die Definition ihrer Existenz von langer Hand und sorgfältig vorbereiten. Gerhard dagegen lebt im Weder-Noch und Sowohl-als-auch. Das sind bekanntlich kreuzgefährliche Gegenden. In diesen Wäldern haben sich viele schon verlaufen. Was bei Schwächeren im Irrenhaus endet, endet für die Starken auf einer Bank mit Blick ins Tal.
20.
Gerhard Oschatz wohnt nicht im Prenzlauer Berg. Er wohnt oben drauf. Wenn ich mit dem Fahrrad, vom Alex kommend, zu ihm hoch strample, spüre ich den Berg.
Gerhard sitzt im Abendsonnenschein und schaut hinab ins schöne Tal.
Von oben kann er die Trampelpfade und Schleichwege gut erkennen. Die Nebenpfade auch und die Sackgassen sowieso. Hat Gerhard genug gesehen, steigt er fröhlich hinab und schaut sich das Ganze von unten an. Es ist – man sieht es seinen Zeichnungen an – ein schönes Leben. Mittendrin und dicht daneben.
21.
Der Jakobiner, Flaneur und Bergbewohner ist zu guter Letzt und zu allererst ein Zeichner. Das Zeichnen – jeder weiß es – ist verräterisch. – Die Zeichenkunst ist mitteilsam, wie kaum ein anderes Medium. Wer zeichnet, ist erkannt. Kein prächtiges Blendwerk bietet schattige Verstecke.
22.
Die Geburt einer Zeichnung gleicht einer riskanten Schussfahrt. – Meistens stellt sich der Kopf schon quer. Dieser Schlagbaum klemmt gern und häufig. Hier wohnen das Wissen, das Vergleichen und die Verzagtheit. Ausschalten lässt sich dieses Organ leider nicht. Aber es gibt Kniffe und Listen den obersten Kontrolleur bei Laune zu halten. Hat das Bild den Kopf glücklich passiert, geht es in rasender Fahrt via Sonnengeflecht – hier wohnen Lust und Unlust – hinunter-hinauf in das Herz. Hier bekommt das Bild die notwendige Wärme und Energie, um den Rest der Reise, die zittrige Partie durch Arm und Hand, in den Stift und auf´s Papier, zu bewältigen.
Bevor das Publikum Platz nimmt, streiten Kopf und Herz um das endgültige Urteil. Daumen hoch, Daumen runter. – Ein unerbittlicher Streit. Schließlich geht es um die existentielle Frage: »Darf die Zeichnung leben, oder wird sie dem Papierkorb zum Fraß vorgeworfen?«
23.
Die Zeichnungen, die wir hier sehen dürfen, haben diese mörderischen Prüfungen absolviert. Dass sie da sind, ist ein Wunder. Sie zeugen von der Fröhlichkeit des Herzens und der Melancholie des Verstandes. Wer sehen kann, sieht, wie kostbar Bewegung und Stillstand verteilt, wie schön die großzügigen – fast konstruiert wirkenden – Formen ineinander gehen und wie lustvoll sie erzählen.
24.
In diesen Zeichnungen zeigt sich ein Künstler, der unfähig ist, sich zu verstellen. Die Motive, die er aufsucht – oder sollte man sagen, die ihn aufsuchen? – sind nicht willkürlich, sie entsprechen seiner Natur. Ausgehend vom Häuslichen verbreitet er sich über die Welt. So, wie es Goethe sagt,
25.
Gerhard Oschatz kann andere herzlich loben. Mit sich ist er selten zufrieden.
Der goldene Tschechow-Satz »Unzufriedenheit mit dem Geschaffenen ist ein Zeichen für Talent«, trifft auf Gerhard Oschatz zu.
26.
Doch alles Talent ist ohne Mut verloren. Zeichnen braucht Mut.
Mut den Strich zu setzen. Mut ihn auszuhalten. Mut ihn stehen zu lassen. Mut ihn zu zeigen.
Dieser Strich verrät ihm alles über sich – und uns alles über ihn.
Ist die Zeichnung im Kopf, bekommt man sie nicht wieder heraus.
Wir sehen mit einem Blick, welchen Haltungen und Traditionen der Zeichner verpflichtet ist und welchen nicht. Wir sehen, wo er Schiss hatte und wo nicht.
Wir sehen, wo es ihm gut ging und wo nicht.
Der Strich kehrt das Innere nach außen.
Jede Zeichnung ist ein Bekenntnis.
27.
Für den unglücklichen Zeichner sind alle glücklich, die dieses Bekenntnis nicht liefern müssen. – Für den glücklichen Zeichner sind alle unglücklich, die dieses Bekenntnis nicht liefern können.
Heute ehren wir einen Zeichner, der glücklich sein darf.
Glücklich über sein mutiges Bekenntnis und glücklich darüber, dass er mit sich eins sein darf.
Und wir haben ja verstanden: Was nicht da ist, wird nicht vermisst.