Franz ZauleckZaulex.de

9. Dezember 2005: O wie Oschatz - Eine Laudatio

Am 21. Oktober habe ich mein schwarzes Notizbuch verloren. Ich habe es in der Bahn, zwischen Berlin und Interlaken, liegen gelassen. Ich habe mit dem deutschen und dem schweizerischen Fundbüro telefoniert, ich werde es nicht mehr wiedersehen. Ich habe im Atlas gesucht und gesehen, dass von Interlaken Züge in die weite Welt gehen. Im Osten über den Bosporus bis nach Ulan Bator. Im Süden über Reggio di Calabria bis nach Marrakesch. In meinem Notizbuch befanden sich unter anderem kleine Texte über meinen Freund Gerhard Oschatz, winzige Beobachtungen, bruchstückhafte Mitschriften und eine feine Sammlung von Zitaten. Ich stelle mir vor, dass das Notizbuch gemeinsam mit Zeitungen und Pappschachteln in eine Papiermühle in Marrakesch oder Ulan Bator verfrachtet wurde und dass ein Mann das Buch vor dem Einweichen und Zermahlen gerettet und nach Hause getragen hat. Vor dem Schlafengehen dürfen seine Kinder in Ulan Bator oder Marra¬kesch in meinem Notizbuch blättern und die Zeichnungen und Collagen betrachten. Sie lesen auch die Texte und – ich stelle mir vor – sie verstehen sie sogar. Die Kinder lesen also die Geschichten von Gerhard O., sie lesen Sprüche und Aussprüche, die ich notiert habe. Sie lesen winzige Dialoge wie diesen – ich muss aus dem Gedächtnis zitieren: Vorsichtige Frage am Telefon: „Geht es Dir gut, Gerhard?“ Antwort: „Ach, frag nicht, ich muss das Zeichen-brett hüten.“ Oder: Der Bäcker verkauft neuerdings Sportbrot: Gerhard, sehr freundlich: „Geben sie mir bitte ein Motorbrot.“ Oder: auf meine Mitteilung, dass ich in der kleinen uckermärkischen Stadt Lychen zu tun habe, die promte Warnung: „Lychen haben kurze Beine!“
Gerhard Oschatz reagiert auf jede Silbe. Seine Lust am absurden Ergänzen, Drehen und Erweitern von Worten, Sätzen, Namen ist unstillbar. Er sammelt und archiviert unaufhörlich Sprach- und Sprechsituationen und teilt sie auch gern mit. Für ihn gibt es weder Geringes noch Erhabenes, das er nicht sofort durchprobiert, sich aneignet und weiterspinnend verarbeitet. Das Material findet er überall: auf der Straße, in der Bahn, am Telefon, in der Kneipe. „Dürf ick ma wat sagen“, melden sich die Figuren seiner Beobachtung. Und wenn sie dann dürfen, kommen grandiose Sätze wie dieser: „Also ick würd mir ja ekeln, wa?“ Der Mann aus Thüringen hat ein Ohr für die Berliner Musik. Er steht an der Quelle. Er hört das Rauschen und macht sich einen Reim darauf. Er ist ein Sprachspieler und Sprachzocker, wie er von sich selber sagt. Er ist auch ein Sprachequilibrist, wie Max Liebermann einer war, auch so eine Doppelbegabung.
Vor einigen Jahren, in einer Zeit vor dieser Zeit, hat die Zeitschrift „Das Magazin“ Künstler gebeten, unter dem Motto „Ich als Tier“ ein Selbstporträt zu liefern. Die Kollegen zeichneten ihr Konterfei. Jeder nach seiner Art. Es entstanden Eulen, Tiefseefische, Hunde, Robben, Katzen und Affen. Gerhard Oschatz zeichnete eine Fledermaus, die im Superman-Kostüm kopfunter in den Zweigen hängt. Auf der Brust prangt statt des S von Superman ein O. O wie Oschatz. Das O ist ein ideales Zeichen für einen wie ihn. Es steht für das O des heiteren Erstaunens, das O des bedauernden Verwunderns oder das O des verwundernden Bedauerns. Das O ist ein schöner Buchstabe für eine Fledermaus. Wer mit dem Kopf nach unten die Welt betrachtet, sieht nämlich, dass unten oben ist und oben unten. Rechts ist links und links ist rechts. Osten ist Westen und Westen ist Osten. „O, o!“ Jemand mit dieser Perspektive verdreht nicht nur die Worte. Er sieht auch vieles klarer. Wie der Zeichner, der das Blatt umdreht, um den Blick fremd zu stellen und somit die Löcher in der Arbeit zu erkennen.
Wechselnde Völker ziehen durch Gerhards Wohngebiet. Er ist wahrscheinlich der Sesshafteste unter den Bewohnern der Choriner Straße. Obwohl er selbst ein Zugezogener ist, gilt er den Neuen als Eingeborener. Er legt den Finger an die Nase, schaut die Straße hinauf und hinunter und sagt: „O!“ Die Volksstämme, die durch die Choriner Straße ziehen und dort Quartier nehmen, sind noch nicht die Kinder von Marrakesch oder Ulan Bator. Noch kommen sie vom Westen, aus Schwaben und vom Niederrhein. Noch kann die Sparkasse an ihn schreiben: „Sehr geehrter Herr Ostschatz!“
Wenn die Kinder von Ulan Bator oder Marrakesch eines Tages die Choriner Straße besuchen werden, bringen sie – so stelle ich es mir vor – ein Märchen mit.
Es lebte einmal ein alter Müller, so beginnt das Märchen. Gerhards Vater war Müller. Das hatte ich notiert. Und – ich erzähle kein Märchen – Gerhard ist wirklich der jüngste Müllerssohn. Das hatte ich auch notiert. Der Vater verteilt das Erbe. Der älteste Sohn bekommt die Mühle. Der Jüngste muss ziehen. Er erbt den Kater. Der Kater ist ein Nichtsnutz und schlechter Mäusefänger. Ihm gehört eigentlich das Fell abgezogen. Aber er kann sprechen. Der Jüngste ist ein Katerversteher. Ein Glück für beide: den Kater und den Jüngsten.
Die Müllerskinder! „Rickeracke! Rickeracke! Geht die Mühle mit Geknacke.“ Eichendorffs Taugenichts ist ein Müllerssohn. Wir kennen den traurigen Maler Müller, Müller-Thurgau den heiteren, Schuberts „Schöne Müllerin“ und Heiner Müller, den freundlich Unerbittlichen. Mit den Müllern hat es eine besondere Bewandnis.
Der Kater frisst die Zaubermaus und zieht mit dem Müllerssohn – das Wandern ist des Müllers Lust! – von Jena über die sieben Berge nach Berlin, die Hauptstadt der Fledermäuse. Der Kater bleibt auf dem Alexanderplatz stehen und streckt die Vorderpfoten aus. Er zeigt nach da und nach da. „Da ist die Philosophie und da die Zeichnerei. Da und da.“ „O“, sagt der Müllerssohn und geht, wie befohlen, in beide Richtungen. Nach Westen, die Linden lang galopp, galopp und nach Osten ins ferne Weißensee. Und – welch Wunder – es zerreißt ihn nicht. Er hat ja den Kater. Unter den Linden ist der Philosoph Zeichner, in Weißensee ist der Zeichner Philosoph.
Ein schönes Gedicht von Gerhard Oschatz beginnt mit den Zeilen:

Große Kreise dreht die Mühle.
Die Fische stehen unterm Eis.

Das Dasein eines zeichnenden Philosophen ist genauso ein Da-und-da-sein wie das eines philo-sophierenden Zeichners. Er muss in jedem Fall aufs Eis. „Da müssen wir hinüber“, sagt der Kater. „Kunst ist Erleiden, nicht Empfangen.“ Das Eis ist dünn. Alle hören, wie es knackt. „Manchmal“, sagt Gerhard Oschatz, „manchmal drückt man zu sehr auf.“ Das kann er sich auf dem Eis nicht leisten. Leute im Da-und-da-sein sind vieles, sie sind auch die Stellvertreter des Scheiterns. Wir sehen immer die, die ans sichere Ufer gekommen sind. Die vielen Eingebrochenen umfängt das Schweigen.

Die Fische stehen unterm Eis.

Wir sehen die blitzenden frischen Zeichnungen, wir sehen den leichten und sicheren Strich und ahnen natürlich, wieviele Anläufe und Versuche, wieviele schwere Stunden davor waren. Was hier so tänzerisch und frei daherkommt, ist die Freiheit des noch einmal Davongekommenen. Er hat es, dem Kater sei Dank, geschafft. Der Alltag, die Notwendigkeiten der Normalität, die Nöte der Norm, haben ihn nicht zum Schweigen gebracht. Das Eis hat gehalten.
Gerhard Oschatz ist ein guter Freund. Er verteilt gern Geschenke, kleine freundliche Gaben. Seltener verschenkt er Zeichnungen, manchmal gibt es einen Zeitungsschnipsel. Die häufigsten und mir liebsten Geschenke sind die unscheinbaren.
Oft ist es nur eine Silbe. Knulps ist so eine Silbe. Oder Schrumms. Wenn etwas Knulps ist oder Schrumms, dann ist es noch nicht ganz aufgegeben, dann hat es noch eine Chance. Eine Knulps-Zeichnung ist noch keine Scheißzeichnung. Und eine Schrummsreise war nicht ganz umsonst. Wir – er, der Schenker, und ich, der Beschenkte – unterhalten uns inzwischen in einer – nicht allen verständlichen – Fachsprache, einer Art Rotwelsch, deren Hauptvokal merkwürdigerweise das U ist. Wir verständigen uns über malende Schrumpsnullen und theatralisches Gerunkel. Ich runkele, du runkelst, er wird gerunkelt haben, wir werden gerunkelt worden sein. Grammatikalisch korrekt.

Große Kreise dreht die Mühle.
Die Fische stehen unterm Eis.
Der Müller geht sich jetzt rasieren.

Müllerssöhne sind nicht von schlechten Eltern. Gerhard Oschatz trägt keine italienischen Designerjacken, keine verwegenen Hüte und schon gar nicht gelbe Schuhe. Aber immer, wenn es etwas feierlicher als alltäglich wird, sieht man unter der praktischen Windjacke eine sorgfältig gebundene Krawatte, nicht auffällig, aber da. Dieses unscheinbare Signal ist er seinem Herkommen schuldig. Er braucht keine gelben Schuhe, er hat diese blaugraue Krawatte.
Seinem Talent schuldet er, dass er nichts vergisst. Der Kater passt auf. Gerhard Oschatz wird nicht müde zu mahnen, dass das Erinnern nicht von außen, sondern von innen kommt. Wahrhaftigkeit ist vor allem eine ästhetische Verpflichtung. Wer eine Begabung hat, kann sich damit auch das Leben versauen. Jemand kann sich unbeliebt machen, wenn er hartnäckig-freundlich darauf besteht, dass eine Geschichte vom Anfang und nicht vom Ende her zu erzählen ist. Gerhard Oschatz rennt nicht gegen Windmühlen-flügel. Nein, so etwas würde ein Müllerssohn nicht tun.
In seinem Lindenbuch „Ich stelle mir den Himmel vor“ finde ich den anrührenden Satz:
„Am Lustgarten steht ein Stein, für welche, die den Krieg verhindern wollten. Ich setze mich in die Sonne.“

Die Fische stehen unterm Eis.

Mit der Zeichnerei ist es wie mit der Wahrheit: Zeichnen ist alles oder nichts. Wie Gerhard Oschatz sich Rhythmus und Syntax der Sprache aneignet, so notiert der Zeichner die Grammatik einer Form, die Musikalität einer Landschaft und die Chiffre einer Person. Was er in Formen bringen will, beobachtet und bewegt er ausdauernd und gründlich. Er trägt das Vorgestellte und das Beob¬achtete lange mit sich herum. Die Bilder zu Ubu und Bulgakows Margarita, die Bilder von Gua¬temala, von Mexiko oder aus dem Prenzlauer Berg. Ich habe ihn nie öffentlich zeichnen sehen. Er trägt das Erinnerte zum Zeichentisch und plagt sich dort – unsichtbar für uns – damit ab.
Die scheinbar zeichnerische Lässigkeit ist in Wahrheit das ganze Gegenteil davon. Nicht die Zeit, die jemand über einer Zeichnung verbringt, entscheidet über ihre Qualität. Die maßgebliche Zeit ist die Zeit der Vorbereitung. An mancher Sekundenzeichnung hängt ein halbes Leben.
Gerhard ist ein wunderbarer Lehrer. Seine Ermutigungen sind nicht billig, seine Kritik bleibt nie allgemein. Wer ihm zuhört, verlässt den Ort der Kritik immer mit Gewinn.
Als wir uns vor 20 Jahren kennenlernten sagte er unablässig zu mir: Nutze die Zeit, suche die Form, verteidige sie, bleibe bei dir! Heute – wo ich ihn gut kenne – weiß ich, dass es nicht nur die wohlmeinende Einrede eines Kollegen an einen Kollegen war. Seine Forderungen waren immer auch Selbstermahnungen. Er hat sich daran gehalten. Er hat die Form gesucht und verteidigt, er ist bei sich geblieben und er nutzt die Zeit, so gut er kann.
Über Vorbilder habe ich Gerhard niemals befragt. Ich weiß aber, dass er die formstarken und pointensicheren Meister besonders verehrt: André Francois, Saul Steinberg, Jiri Salamoun, Ralph Steadman. Alles Leute, die anscheinend völlig anders arbeiten als er. Auf den zweiten Blick jedoch erkennen wir die Verwandschaft. Hier arbeitet ein Spezialist der Tarnung: Was so leicht daherkommt, ist geprüft und geklärt. Keine Form ist zufällig. Über jede Struktur kann er Rechenschaft geben. Die Textur des Außen lebt von der inneren Wahrheit. Wir sehen keine Würfe. Was er zeigt, sind immer Entwürfe.
Die Mutter eines Schülers, die die Arbeiten des Lehrers Oschatz gesehen hatte, versuchte den Vorhang zu heben: „Herr Oschatz, Sie zeichnen wie Schwimmer.“ Gerhard brauchte für die Antwort nicht eine Sekunde: „Ich bin Nichtschwimmer.“
Hier wird nicht geschwommen. Hier werden Pflöcke eingeschlagen, mit kräftigen Hieben wird der Gegenstand umrissen. Mit dem Daumen werden straffe beherzte Schatten gesetzt, hier wird glänzend behauptet und sprühend geprunkt. Geschwommen wird hier eher selten.

Große Kreise dreht die Mühle.
Die Fische stehen unterm Eis.
Der Müller geht sich jetzt rasieren.
Das reimt sich nicht.
Ich weiß, ich weiß.

In diesem Jahr sind viele Zeichnerphilosophen gestorben. Einige liegen todkrank danieder. Von F. K. Waechter, der in diesem September starb, gibt es eine wunderbare Szene: Ein Spanner im Baum beobachtet ein vögelndes Paar. Der Liebhaber reißt das Fenster auf und schreit: „Du Schwein! Wenn ich dich kriege!“ Der Spanner im Baum ruft: „Sie waren einsame Spitze!“ Der Mann im Fenster sagt: „Das sagt sie mir nie!“
Hier spricht die Not des einsamen Zeichners. Diese Sehnsucht, dass es einer mal sagt!
Was für ein schöner Abend! Vor Oschatz´ Zeichnungen stehen die Spanner. Sie schweigen nicht, sie loben.

(Rede von Franz Zauleck für Gerhard Oschatz am 9. Dezember 2005 in Bernau, anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung von Zeichnungen in der Bernauer Ladengalerie von Annett und Axel Schauß)

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