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27. Mai 2010: ATAKs Rede zur Ausstellung „ich mich auch – Arbeiten aus zwei Jahrhunderten" in der Galerie ratskeller (rk) im Rathaus Berlin-Lichtenberg

Hallo Berlin! Hallo Berlin-Lichtenberg! Das letzte Mal, als ich hier zu Besuch war, wurde ich von einem Toten begrüßt. Direkt am Treppenausgang des S-Bahnhofs Lichtenberg. Wir waren auf dem Weg zu einer Ausstellungseröffnung. Von dem befreundeten Kollegen Ottfried Zielke. In einer kleiner Galerie. Gleich um die Ecke des Bahnhofes und da lag nun dieser Tote neben dem Müllkorb. Ruhig und wie selbstverständlich. Der Krankenwagen wäre schon unterwegs, erklärte uns eine sichtlich aufgeregte Frau Mitte Fünfzig. Wir vermuteten zu spät. Ein Blick auf den leblos Liegenden genügte. Er hatte wahrscheinlich zuviel Alkohol, zuviel. Außerdem zuviel Arbeitslosigkeit und natürlich zuviel DDR-Vergangenheit. Drei Zuviels zuviel: „Willkommen in Berlin-Lichtenberg“ dachten wir da und liefen schnell weiter. Trotzdem trafen wir zu spät in der Galerie ein. Zumindest zu spät zur Ausstellungseröffnungsrede.
Da kam die zweite Erkenntnis von unserem Ausflug: Es gibt bei kulturellen Anlässen in Lichtenberg, zum Beispiel bei einer Ausstellungseröffnung, wie gerade jetzt, eine Rede. Und ... und die fängt entsprechend auch pünktlich an. Dies ist nicht überall so. Vom Galerieszenebezirk Mitte munkelt man sogar, dort werden die Bilder erst gegen Mitternacht aufgehängt. Wenn überhaupt. Im Nachhinein verstehe ich also meinen Illustrationskollegen Klaus Ensikat aus Lichtenberg sehr gut, als er bei einer Ausstellungseröffnung in der Torstrasse/Berlin Mitte ordnungsgemäß10 Minuten vor 19.00 Uhr erschien und sich natürlich wunderte, warum er der einzige war. Wir leben in einer Stadt der kulturellen Unterschiede.
Nun, über gewisse Unterschiede und eventuelle Gemeinsamkeiten wird es in der folgenden einstündigen Rede gehen.
Denn der hier ausgestellte Künstler Franz Zauleck hat mich um eine lange und seriöse Rede von einer Stunde gebeten. Ach, ich habe lange gezögert und dann doch zugesagt. Nicht weil ich lange Reden mag oder selbst halten kann. Sondern weil ich ihn und vor allem seine Arbeit sehr schätze. Und natürlich ist es auch eine große Ehre von ihm gefragt zu werden. Eine Ehre, die mich aber auch skeptisch machte. Irgendwo musste doch da ein Haken sein! Denn was, wieso und warum sollte ein junger Spunt, wie ich, einen so erfolgreichen, respektablen und erfahrenen Kollegen huldigen? Läuft die Zeit jetzt total aus dem Ruder? Gebären demnächst die Babys ihre eigenen Eltern?
Zwischen dem Künstler Franz Zauleck und meiner Person gibt es einige nicht von der Hand weisende Unterschiede. Natürlich als erstes der eben angedeutete Alterunterschied. So feiert Franz Zauleck dieses Jahr das sechzigste Jubelfest. Ein Anlass, ihn ordentlich und seriös mit einer umfassenden Werkschau, sprich Retrospektive zu würdigen. Zum Beispiel in Berlin-Lichtenberg. Eine naheliegende Idee. Wie viele in der Runde wissen, ist Franz Zauleck ein unterhaltsamer Erzähler. Es gibt von ihm die großartige und bewusst tiefgestapelte Geschichte, dass er, als ein Berliner der immer in Berlin lebte und wohnte, vielleicht mehr ein Provinzler ist, weil sein Bewegungsradius und seine damit erlebten Abenteuermöglichkeiten weitaus geringer sind, als jemand der erst die hunderte von Kilometer aus einem winzig kleinen Kaff im entfernten Allgäu überwinden musste, um endlich die Hauptstadt und dann einen ihrer vielen Bezirke, wie Mitte, Wedding oder Neukölln, zu erreichen. In seinen 60 Jahren hat es Franz Zauleck gerade mal vom Geburtsort Pankow bis nach Lichtenberg geschafft. Dies bedeutet 0,2 Kilometer pro Jahr. Da halte ich mit meinen 90 Kilometern von Frankfurt an der Oder bis in den Prenzlauer Berg ihm gegenüber unmissverständlich den Rekord. Ein nächster Unterschied betrifft unser Ferien- und Wochenenddomizil. Gegen sein stolzes und prachtvolles Anwesen in der Prignitz kann ich natürlich mit meiner Schuhkartondatsche nicht konkurrieren. Sein stilvoll ausgebautes Bauernhaus liegt anderthalb Autostunden von Berlin entfernt. Wir saßen im wunderschönen Garten neben dem blühenden Rapsfeld. Seine Frau Lonka tafelte uns Kaffee und selbstgebackenen Kuchen auf. Die Vögel zwitscherten ihre Frühlingshymne und ich dachte so bei mir, der Kollege Zauleck, der hat es geschafft. So sieht der wohlverdiente Preis seines Erfolges aus.
Doch bei allen Gegensätzen gibt es interessanterweise auch gewisse Gemeinsamkeiten. Darunter befinden sich ähnliche künstlerische Bezüge. Positionen. Verbindungslinien. Entstanden vielleicht aufgrund unserer gemeinsamen DDR- Herkunft. Die Wurzeln.
So sind wir beide durch die alte und legendäre Schule von DDR-Idolen geprägt. Unsere aufgestellte Liste beinhaltet Helden und Götter, wie Gerhardt Altenbourg, Horst Hussel, Klaus Ensikat, O.T. Mörstedt, Eberhard Binder, Hans Ticha, Ruth Knorr, Horst Sagert, Volker Pfüller und viele andere. Hinzu kommt die polnische Plakatkunsttradition, die tschechische Buchillustrationskultur, vertreten durch Adolf Born und Jiri Trinka, sowie der russische Konstruktivismus und die Avantgarde der Zwanziger Jahre. Da fallen Namen voller Erfurcht wie Wladimir Lebedev, Alexander Rotschenko und Sergej Eisenstein. Auf eine vermutlich ähnliche Art und Weise gruben wir in den Archiven der spärlichen DDR-Publikationen, und stießen dabei auf die unbekannten Comicsonntagseiten von Lionel Feininger, die ungemein klaren Zeichnungen eines Thomas Theodor Heines in der deutschen Satirezeitschrift Simplicissimus, auf die bis heute unübertroffenen meisterlichen Cartoons von George Grosz, die Abenteuerbildergeschichten von den Digedags in der legendären „Mosaik“- Heftreihe von Hannes Hegen, auf die allerersten Comiczeichnungen in der Geschichte des Mediums von dem Schweizer Hauslehrer Rudolf Töpffer und noch viel viel viel mehr. Doch unausweichlich an vorderster Stelle seiner vielen Entdeckungen steht bei Franz als Inspirationsquelle der in Prag lebende Künstler Jiri Salamoun. Nach meiner Meinung übt er wohl den stärksten Einfluss auf die Bilderwelt Franz Zaulecks aus. Zwar, auf kongeniale Weise, in eine eigenständige und individuelle Formsprache transformiert und so nur für wenige, pedantisch mit Lupe suchende, Fachspezialisten erkennbar.
Neben den künstlerischen Verbindungen gibt es in unsere Beziehung auch andere zufällige Überkreuzigungen. Nicht nur, dass Franz der Onkel meines guten Freundes und Kollegen Jakob Hein ist, worauf ich immer sehr neidisch war, denn einen so lockeren, offenen und kunstinteressierten Onkel, mit dem man Nächte lang Anregungen austauschen und debattieren kann, hätte ich mir selbst gerne gewünscht. Darüber hinaus verbindet uns ebenso die jahrelange Arbeit für einen Kalender der Berliner Agentur PEIX, bei dem sich unsere Werke immer wieder begegnen. Einige besonders gelungenen Arbeiten, wie die zum Thema Zirkus, sind hier ausgestellt. Die Schwierigkeit bei diesem alljährlich wiederkommenden Auftrag besteht darin, ein extrem langgezogenes Format mit einem wechselnden Themenmotiv zu bespielen. Wahrlich eine wiederkehrende Herausforderung mit seltsamen Deja-Vu-Gefühlen. Jedes Mal war ich fasziniert und überrascht über Franz´ Ergebnisse voller Ideen. Auf welche scheinbar leicht spielerische Art und Weise es Franz Zauleck immer wieder gelingt dies zu meistern, können Sie nun selbst feststellen, wenn sie (dort hinten) seine elegant inszenierten Blätter betrachten. Als letzter Brückenschlag sei noch unsere Nähe zu der legendären und bis heute existierenden Kulturzeitschrift „Das Magazin“ erwähnt. Wo sich Franz als durchaus legitimer Nachfolger des verstorbenen Werner Klemke an die Umschlagsgestaltung wagte. Gescheitert ist dieses Projekt nicht an den unglaublich niveauvollen und unterhaltsamen Bildmotiven von Franz Zauleck, sondern an der Richtungs- und Orientierungslosigkeit der Magazinredaktion nach der Wende. Eine Zeit, in der die Bürger der ehemaligen DDR vom neuen überbordenden Zeitschriften- und Presseangebot verunsichert waren.
Dies ist zum Glück fast zwanzig Jahre her. Viel ist inzwischen im künstlerischen Schaffen von Franz Zauleck passiert. Einen Einblick kann gleich jeder von Ihnen selbst gewinnen. Aber höflicherweise erst, wenn ich mit meiner einstündigen Rede fertig bin. Also, wie bereits erwähnt, fällt es Franz Zauleck erstaunlich leicht unterhaltsame Geschichten zu erzählen. Als Anekdoten in Gesprächen, auf seinen Bildern und in seinen Kinderbüchern und Hörspielen. Doch die einprägsamste war für mich jene, welche er bei einem Vortrag an meiner Hochschule Burg Giebichenstein in Halle hielt. Da referierte er über das Problem in seiner Arbeitsweise beim Illustrieren des Buches „Teryky“ von Juri Rytchëu. In seiner damaligen künstlerischen Stil- und Entwicklungsphase war Franz Zauleck gerade an Bäumen und pflanzlichen Texturen und ihren grafischen Liniengebilden interessiert. Da bot der Stoff der Erzählung über Eskimos und das Leben im Eis und Schnee nicht gerade viele Möglichkeiten sich auszuprobieren. Das sich Franz Zauleck trotzdem mit seinem Interesse radikal über die zu illustrierende Eskimo-Geschichte hinwegsetzte, gebührt meinen absoluten Respekt. Die Beanspruchung, sich als Illustrationskünstler dem Schriftsteller gleich zu setzen, ist eine Anmaßung, aber auch eine klare künstlerische Positionsansage, welche ich nur unterstützen kann. Es ist eine grundlegende Verhaltensfrage zum Ausgangsmanuskript. Der Illustrator ähnelt darin einem Theaterregisseur. Wie interpretiere ich den Text? Ordne ich mich ihm unter oder setze ich meine eigene Interpretationswelt darüber? Franz Zauleck hat es in seinen freien und vor allem auch in seinen Auftragsarbeiten immer wieder geschafft, sich zu behaupten, ohne sich selbst zu verraten. Dafür gratuliere ich ihm vom ganzen Herzen! Auf welche raffinierte und diplomatische Weise er es in der Eskimogeschichte trotzdem bewerkstelligte um seine Vorliebe von pflanzlichen Strukturen unterzubringen, können Sie nun selbst entdecken und bewundern.
Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit!

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