Franz ZauleckZaulex.de

29. August 2011: Jiří Šalamoun in Berlin

In meinem Arbeitszimmer hängt seit vielen Jahren ein Ausstellungsplakat von Jiří Šalamoun. Eine fröhliche Zeichnung zeigt drei Zirkusakrobaten, die versuchen, sich gegenseitig lustvoll-grimmig aufzufressen. Auf dem Plakat steht »Kleine Inventur«. Die Eröffnung der Ausstellung im ČSSR-Kulturzentrum in der Leipziger Straße ist für den 2. November 1989 angezeigt.
Kleine Inventur im November 1989! Es ist kein Witz, so steht es da. Jeder, der sich noch an den Herbst 1989 in Berlin erinnert, weiß, dass die Menschen in diesen Tagen eine Große Inventur forderten. Der 2. November war ein Donnerstag. An diesem Tag waren sehr viele Berliner Künstler damit beschäftigt, aufmüpfige Transparente anzufertigen, die sie zwei Tage später herumzeigen wollten. (Auf mein Transparent pinselte ich: »Glasnost ist keine Banane!« Damals fand ich das lustig.) Am 4. November, einem Sonnabend, versammelte sich also wie geplant – in Deutschland werden Aufstände geplant – auf dem Berliner Alexanderplatz eine halbe Million Menschen. Auf dem Weg dahin ließen die Demonstranten die Leipziger Straße links liegen. Auf dem großen Platz lauschten sie den Rednern, die laut und vielstimmig über eine Große Inventur nachdachten. Erstaunlicherweise sprach niemand von Šalamoun. Die Redner auf der Tribüne sagten alles Mögliche. Auch wichtige Sachen. Aber niemand sagte: »Leute, nicht weit von hier, in der Leipziger Straße, zeigt ein Prager Meister eine kleine Inventur. Er hat in Leipzig studiert, er arbeitet in Prag. Leipzig – Prag – Leipzig! Na, klingelt‘s! Dieser Mann weiß, wie eine ordentliche Inventur gemacht wird! Er verbindet Klugheit mit Schönheit und Witz. Geht in diese Ausstellung, lernt von diesem Meister, dass die Lokomotiven, auch die viel zitierten der Geschichte, gegen den Satz des Pythagoras machtlos sind. Er macht sichtbar, welche Gesetze gültig und welche angemaßt sind.« Keiner hat so etwas gesagt, niemand hat es erwähnt. Heute weiß ich, dass dieses Versäumnis Folgen hatte.
Die Große Inventur hätte von der »Kleinen Inventur«, wenn nicht alles, so doch vieles lernen können.
Ich weiß nicht, wie viele Besucher damals in der »Kleinen Inventur« waren. So, wie sich die Geschichte dann entwickelte, müssen es zu wenige gewesen sein. Sonst wäre manche Entscheidung weiser, manche Trennung gütiger und manche Perspektive übermütiger gewesen. Die Große Inventur stellte sich schnell als undurchführbar heraus. Die Verwalter des riesigen Schlampladens warfen den Bettel hin und am 9. November, eine Woche nach Eröffnung der »Kleinen Inventur«, fiel die Mauer einfach um. Das war wieder ein Donnerstag.
In diesen denkwürdigen Tagen kam der deutschen Revolte der feine Humor abhanden, und die impulsive Schönheit löste sich in Luft auf. Statt dessen gewannen Ingrimm, Gier und Rechthaberei die Oberhand. Die Deutschen wurden mit einer langen Zeit der vereinigten Entzweiung gestraft.
Das Schlimmste aber war, dass sie mit einer Jahrzehnte dauernden Šalamoun-Enthaltung gequält wurden. Der Westen kannte Šalamoun noch nicht und der Osten kam in Gefahr, ihn zu vergessen. (Oder kennt jemand einen deutschen Verlag, der in den vergangenen zwanzig Jahren ernsthaft erwogen hätte, die grandiosen Arbeiten dieses Meisters angemessen zu präsentieren?) Ein lustiger Mensch hat gesagt: »Erst wenn Jiří Šalamoun im Osten wie im Westen gleichermaßen geschätzt wird, ist die deutsche Einheit vollendet.«
Nach dem folgenschweren Donnerstag funkelten Jiří Šalamouns abgründige, wagemutige Arbeiten noch drei Wochen, sich selbst überlassen, hinter den Scheiben der Galerie in der Leipziger Straße. Als ich Mitte November die Ausstellung besuchte, waren die Räume leer. In der aufgeregten Stadt Berlin sprang ein halbes Volk von der einen Seite des Grabens zur anderen. Die Strahlen der Šalamounschen Sonne wärmten die erregte Seele und das heitere Licht, das aus diesen weisen Zeichnungen kam, legte sich wohltuend auf mein Herz. Am liebsten hätte ich den Menschen zugerufen: »Was Ihr sucht, hier könnt Ihr es finden; hier sind Freiheit, Schönheit und Wahrheit aufs Innigste verbunden«. Aber meinem Mund entwich kein Ton. Am 24. November wurde die »Kleine Inventur« geschlossen. Da trieb das Land, in welchem sie vier Wochen zuvor eröffnet wurde, schon auf dem offenen Meer.
(Berlin, 29. August 2011)

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