5. Januar 2002: Die Zitrone am Himmel.
In einem armseligen Haus lebten drei Leute. Eine Henne, eine Giraffe und ein Schwein. In einer mondblauen Nacht klopfte ein müder Hund an die Tür... Während wir diese Geschichte lesen, errichten wir uns eine Landschaft. Wir haben schöne Worte dafür: armselig und mondblau. Wir erschaffen das Haus, die Nacht, die Henne, die Giraffe, das Schwein und den Hund. Du siehst etwas anderes als ich. Du wurdest auf dem Land groß. Ich wuchs in der Stadt auf. Wir hatten keinen Fernseher. Ihr hattet keine Bücher. Du siehst ein anderes armseliges Haus als ich. Meine Nacht ist anders blau als deine. Das armselige Haus mit seinen Bewohnern gehört dir und mir. Die Bilder der Geschichte müssen an den Tag. Ein guter Zeichner (über einen schlechten Zeichner lohnt nicht zu reden) erhält den schönen Auftrag die Erzählung vom armseligen Haus und seinen Bewohnern zu illustrieren. Der Verleger hat sich für diesen Zeichner entschieden, nachdem er gründlich über andere Zeichner nachgedacht hatte. Dieser Zeichner, so hofft der Verleger, würde am ehesten das richtige Licht auf die Geschichte richten. Der Zeichner nimmt spitze Federn und breite Pinsel, helle Farben und finstere Tuschen. Das Wort Illustration leitet sich von Erleuchtung, lateinisch: illustratio, her. Der Illustrator bringt Licht in die Erzählung. Er entscheidet, ob das Licht scharf ist oder mild, ob warm oder kalt. Die Bilder der Erzählung kommen an den Tag.
Jetzt sitze ich am Kinderbett und lese die Geschichte vom armseligen Haus vor. Das Kind erschafft sich beim Zuhören das Haus und seine Ein- wohner. Am Ende der Lesung will das müde Kind die Illustration sehen. Ich zögere. Das Bild wird, so fürchte ich, die vorgestellte Welt des Kindes zum Einsturz bringen. Das Kind setzt sich durch. Es sieht das armselige Haus vom guten Zeich- ner. Und sieht: eine andere Geschichte. Das armselige Haus ist eine rote Kaffeekanne, die Giraffe ist winzig klein und grün, die Henne sitzt im Schaukelstuhl und qualmt Zigarren, das Schwein heizt den Badeofen und der Hund hat ein Gipsbein.
Am fliederfarbenen Himmel hängt eine Zitrone. Das ist der Mond.
Das armselige Haus des guten Zeichners gehört jetzt nicht mehr mir allein oder dir oder dem Kind. Jetzt ist es allgemein. Jetzt gehört es allen. Wer das Bild vom armseligen Haus einmal sah, wird diese Haus nicht mehr ohne Zitrone am Himmel denken.
Hat der gute Zeichner uns sein Bild gezeigt, werden wir die Geschichte anders lesen als vorher. Die Geschichte des Don Quichote ist eine andere, seit Gustave Doré sie illustrierte und damit noch einmal erschuf.
So ist es mit Schwejk, mit Jesus und Maria oder dem gestiefelten Kater. Immer lesen wir die Geschichten von Josef Lada, Piero della Francesca und Ludwig Richter mit.
Wir sind zugleich beschenkt und beraubt.
Text und Illustration sind ein seltsames Paar. Der Text, kommt ganz gut allein klar. Er ist sich selbst Erleuchtung ge- nug. Aber eine ursprüngliche Sehnsucht drängt nach Bildern. Diese Sehn- sucht überwindet sogar Bilderverbote. Die Bilder des Textes drängen nach Materialisierung.
Der Text sagt: „Armseliges Haus!“ Und es kann alles sein. Ein Haus aus Schnee, ein Stiefel oder eine alte Garage. Wenn die Illustration „armseliges Haus“ sagt, wird es konkret. Die Kaffeekanne ist rot und verbeult.
Selbst wenn der Text „armselige Kaffeekanne“ sagen würde, hätte die Illustration das letzte Wort. Sie bestimmt, welche Armseligkeit da konkret herrscht und was für eine Kaffeekanne wir konkret sehen.
Der Text liefert das erste Bild. Die Illustration hat immer das letzte Wort.
Der Text fordert, dass man ihn zusammensetzt. Lesen ist Aufbauarbeit. Wort für Wort. Steinchen für Steinchen. Die Illustration verlangt das Gegenteil. Sie will in ihre Bestandteile zerlegt werden. Wir nehmen die Illustration wahr, indem wir sie auseinander nehmen.
Text und Illustration sind Aggregatzuständen vergleichbar. Er ist flüssig, sie ist fest. Er schwebt, sie ruht.
Handelt es sich um ein glückliches Paar, ergänzen sich die Beiden ideal.
Eine gute Illustration bevormundet den Text nicht. Sie gibt ihm Räume, in denen sich seine Erzählung entfalten kann.
Dass sie so unterschiedlich erzählen können, ist das Geheimnis dieses Paares. Text und Illustration, ein Verhältnis nicht ohne Spannungen. Aber ein glückliches Paar.
Es gibt auch unglückliche Paare. Meistens hat sie Schuld. Wenn die Illustration die Pointe des Textes zu Tode erklärt. Wenn sie das Unaussprechliche des Textes nicht respektiert. Wenn ihre Festigkeit Starrheit wird und das Schweben des Textes behin- dert. (Das Adjektiv „illustrativ“ hat daher seinen abfälligen Klang)
Es kann auch vorkommen, dass der Text der Kraft der Illustration nicht gewachsen ist. Jeder kennt tragische Beispiele. Die Liste wäre lang.
Unser Bild von Don Quichote bleibt unaulöschlich das Bild, das der kon- geniale Doré im 19. Jahrhundert von ihm machte. Selbst jemand, der die Erzählung von Cervantes nie gelesen hat, kennt den Mann aus La Man- cha. Wem es gelänge, die Geschichte des Ritters von der traurigen Gestalt zu lesen, ohne die Zeichnungen Dorés zu kennen, könnte erleben, dass er andere Bilder produziert. Bilder, die aus eigenen Erfahrungen entstehen. Andere Bilder, aber bestimmt keine besseren.
Es war richtig, dass ich dem Kind das Bild des guten Zeichners gezeigt habe. Das Bild hat die Geschichte nicht, wie ich befürchtete, eingeengt. Es hat sie erweitert. Das Kind konnte sehen, dass eine Kaffeekanne ein armseliges Haus sein kann, dass eine Giraffe unter Umständen kleiner als eine Henne ist und dass Zitronen auch am Himmel wachsen.
Das Kind wird ab heute Kaffeekannen und Zitronen mit anderen Augen betrachten.
(Erschienen in "Deutschunterricht", Heft 2, April 2002)