31. Oktober 2018: Eröffnungsworte zur Ausstellung Jiřί Šalamoun „Hauptsache nichts schriftlich!“
Wenn der Berliner baff ist, sagt er nicht: „Ick bin baff!“ Er sagt: „Wat soll ick dazu sagen?“ Diese typisch berlinische Frage, die keine Antwort erheischt, klingt für das untrainierte auswärtige Ohr etwas hinterhältig. Der Berliner (gibt es ihn überhaupt noch?), der ja immer wat zu sagen hat, bekennt, dass er nicht weiß, wat er sagen soll. Das ist ein hohes Lob.
Jetzt sehe ich all diese prächtigen Arbeiten und denke: „Also, wat soll ick dazu sagen?“
Ich nutze den Augenblick der Ratlosigkeit, um danke zu sagen. Dank an die beiden unermüdlichen Kuratorinnen Petra Hornung und Brigitte Silna. Dank auch an Luboš Drtina, Grafiker aus Prag, der die Passage der Šalamoun-Arbeiten von Prag nach Berlin möglich machte.
1.
Vor bald 20 Jahren – beklagte ich mich bei dem Berliner Verleger Dr. O., dass es kein neues Buch von Šalamoun im deutschen Buchhandel mehr gebe. Schließlich hatte sein Verlag große Verdienste bei der Verbreitung von Šalamouns Werken unter das deutsche Publikum – um präzise zu sein, muss ich sagen: unter das ostdeutsche Publikum.
Dr. O. sagte „O!“ und erzählte mir, dass es um ein Haar ein Jiřί -Šalamoun-Buch in seinem Verlag gegeben hätte. Allerdings, kein ganz neues, aber doch eines der besten in abgewandelter veredelter Form. Er wollte, so erklärte Dr. O., das Buch mit dem schönen Titel „Das große pythagoreische Eisenbahnunglück“ in sorgfältigster und edler Ausstattung mit allem Pipapo – bestem Papier, Originallithografien, feinste Bindung, schönste Einbandgestaltung, Schuber, Lesebändchen etc. – auflegen und in Umlauf bringen.
Nicht billig das Ganze. Die Zahl der Vorbestellungen war dementsprechend leider erbärmlich – 100 wären notwendig gewesen. Und dann kamen vielleicht 12 zusammen. Das Vorhaben scheiterte schon im Ansatz. Ich sagte am Ende des Gesprächs: „O!“ Und dachte im Stillen: „Jammerschade! Marmelade.“
2.
Jetzt sehe ich hier die vielen Fans von Šalamouns Kunst und ich denke, wenn jeder von denen nur ein Buch vorbestellt hätte, wäre es noch einmal gedruckt worden. Auch in der ursprünglichen, nicht ganz so edlen Gestalt, gehört es zu den besten deutschen Büchern der vergangenen hundert Jahre. Der Tscheche Šalamoun hat es in deutscher Sprache verfasst und in universaler Sprache illustriert. Es ist – ich übertreibe nicht – eines der genialsten Bilderbücher der Gegenwart.
3.
Diese Arbeit ist, um es kurz zu machen, ein gescheiter und vergnüglicher Diskurs über das bizarre Verhältnis von Nichts und Etwas.
Ich zitiere von den 17 Kapiteln nur eine Überschrift und jedem wird klar, dass dieses Werk unser gequältes Denken hätte befreien können.
Kapitel 1 trägt zum Beispiel diese Überschrift: „Die verborgene Fortsetzung des sowieso Vergangenen als der scheinbare Anfang des ohnehin Momentanen“. Sonnenklar! Die Fortsetzung ist verborgen. Das Vergangene ist sowieso. Der Anfang ist scheinbar. Und das Momentane ist ohnehin. Genial! Wie befreiend! Solche Worte und dieses Denken hätten wir zu Beginn des Jahrhunderts dringend gebraucht.
4.
Šalamoun fügt den Kapiteln satirisch-visionäre Piktogramme und Fußnoten hinzu. Sie bringen Licht in die verknoteten und verrammelten Reflexionen der abendländischen Kulturdebatten. Mit seinen hinreißenden Bildern wäre das „Eisenbahnunglück“, da bin ich sicher, in neuer und veredelter Gestalt, mit Macht in das Bewusstsein der frisch vereinigten Nation getreten. Die mit Ingrimm geführten Kulturdebatten, die eine Vereinigung naturgemäß immer mit sich bringt, hätten sich mit Šalamouns Hilfe zu fruchtbar-heiteren Diskursen entwickelt. Da das Buch aber nicht da war, ist es leider gekommen, wie es gekommen ist.
5.
Es gibt tatsächlich wenige Vorteile, im Osten Deutschlands sein Leben verbracht zu haben. Aber einige gibt es doch. Ein exemplarischer Vorteil ist oder war es, dass Ostdeutsche unvergleichlich größere Chancen hatten, Šalamoun und seine Arbeit kennenzulernen. Der Grund ist ein simpler.
Jiřί Šalamoun setzte nach einem Grafik-Studium in Prag in den späten 50er Jahren für zwei Jahre seine Studien in Leipzig fort. Er studierte bei Gerhard Kurt Müller und Albert Kapr an der Hochschule für Grafik und Buchkunst. Er bezauberte mit seiner früh sichtbaren Meisterschaft die Lehrer und Kommilitonen. Die Leipziger Studenten sind heute namhafte Kollegen und Meister. Ich nenne hier nur stellvertetend Gert Wunderlich, Rolf Felix Müller und Peter Baarmann. Das waren die Zeiten, in denen Absolventen ihre Namen gegenseitig in die Welt trugen. Und so kam es zum Beispiel, dass der Buchgestalter Peter Baarmann, der später Chefgestalter beim Berliner Eulenspiegel Verlag wurde, für seinen Studienkollegen Jiřί Šalamoun in den 70er und 80er Jahren warb und ihn einlud regelmäßig für den Verlag zu arbeiten.
Die Studienreise nach Leipzig hatte sich also nicht nur für Šalamoun, sondern auch für uns, die ostdeutschen Freundinnen und Freunde des schönen Buchs gelohnt.
6.
Schöne und wichtige Bücher, die es nur im Westen gab – zum Beispiel Bücher mit den Arbeiten von Saul Steinberg und Edward Gorey – erbettelte ich von Fall zu Fall bei meiner Tante im Ruhrgebiet. Viele von uns hatten solche Tanten und Onkel, die sich erbarmten und uns – natürlich nur, wenn es der Zoll der DDR erlaubte – tatkräftig halfen, unsere Wissenslücken in den Fragen der modernen Zeichnung und Illustration zuverlässig zu schließen.
Aber haben wir eigentlich je daran gedacht, dass unsere Tanten und Onkel im Westen auch ein Anrecht auf die Kenntnis von Arbeiten hatten, die ihnen nicht zugänglich waren? Haben wir ihnen je Šalamouns Bücher geschickt? Nein. Haben wir nicht! Die Antwort ist beschämend. Uns entschuldigt nur, dass wir so blöd waren, zu glauben, dass die Westtanten und Onkel alles, was sie erträumten, auch bekommen würden. Aber wir wussten doch eigentlich, dass man nur von etwas träumen kann, von dem man weiß, dass es existiert. Wir haben, wenn überhaupt, Dresdner Christstollen in den Westen geschickt. Niemals aber die wunderbaren Bücher von Jiřί Šalamoun.
Ich behaupte also kühn, dass die Kenntnis oder Unkenntnis des Werkes von Jiřί Šalamoun einen speziellen Grenzverlauf zwischen Ost und West markiert. Ich nenne sie „Die Jiřί -Šalamoun-Kenntnis-Grenze“.
7.
Der weise König Šalamoun mit dem Vornamen Jiřί ist in Prag geboren. Hier wohnt und arbeitet er noch immer. Das goldene Prag, das Jerusalem der Verzweifelten, Hoffenden und Träumenden.
In den vergangenen fünfhundert Jahren – so weit reicht die Erinnerung – konnte man in Prag immer spüren, wie es dem Kontinent geht. War Europa erkältet, hatte Prag Fieber. Hatte Prag Schnupfen, war auch Europa krank. Hier sehen wir den Prager Fenstersturz und hier endete der Prager Frühling. Hier waren sogar Schriftsteller Präsidenten und hier wurde Dr. Kafka geboren.
8.
Dieses Prag hat alle Geschichten Europas in sich aufgenommen und gibt sie an die Künstler, die in ihren Mauern wohnen, weiter. Hier trafen alle nennenswerten Mythen aufeinander, katholische Mystik, die Kabbala und die reichen Prager Legenden von Rabbi Löw und dem Golem. In Prag wurde Don Giovanni uraufgeführt. Hier saß Josef Schweyk im Kelch. Prag ist die Wetterküche der europäischen Kultur. Hier weht der böhmische Wind. Hier waren sie alle. Wir Berliner müssen nicht traurig sein, wir haben schließlich Helga Hahnemann, den Hauptmann von Köpenick und den Eckensteher Nante.
9.
Jiřί Šalamoun gibt dieser Ausstellung einen bemerkenswert polemischen Titel. „Hauptsache nichts schriftlich!“ Mit Ausrufezeichen. Hauptsache ist Hauptsache.
Wenn es im Deutschen heißt „Das kannste schriftlich haben“, ist Gefahr im Verzug. Das Gegenteil von schriftlich ist mündlich. Schriftlich ist das Gesetz. Mündlich ist der Mensch.
In einer Welt, die von Schriftlichem umstellt ist, liefert das Motto dieser Ausstellung eine kühne Forderung. Die Zurückweisung des Schriftlichen kann sich nur ein freier Geist erlauben.
10.
Das Misstrauen gegen das Schriftliche ist gerechtfertigt. Das Schriftliche ist nicht unschuldig an dem Zustand der Welt. Im Schriflichen erstarrt die Kommunikation. Das Schriftliche verschließt den Mund des Erzählers. Das Schriftliche zwängt die Welt in Rechenkästchen. Und bitte nicht über den Rand malen!
11.
Auf der Einladungskarte zu dieser Ausstellung zeigt das komische Bild einen komplett gebrochenen, mit Schnüren geschienten, Arm. Auch der Bleistift ist gebrochen und ebenso geschient. Die Illustration zeigt den Preis, den das Schriftliche fordert. Die Verkrüppelung.
12.
Vor ein paar Jahren präsentierte in Berlin die Heidelberger Prinzhorn-Stiftung Arbeiten aus ihrer Sammlung. Das Kulturbürgertum drängte sich an den Vitrinen und flüsterte: „Verrückt! Irre! Wahnsinn!“ Und was dort geflüstert wurde, war die reine Wahrheit.
Ähnliche Worte aus dem Publikum vernimmt man auch bei der Betrachtung von Šalamouns Arbeiten. Irre, verrückt, wahnsinnig! Mit diesen Adjektiven lässt sich dieser Künstler gerne feiern.
Wenn das Publikum aber riefe: „Normal! Anständig! Sehr hübsch! Schöner Rahmen! Gut gemacht!“, verließe dieser Künstler weinend die Bühne.
13.
Es gibt nichts, was Šalamoun nicht probiert. Nichts, was er nicht riskiert.
Wer zeichnet, darf keinen Schiss haben. Šalamoun ist einer der mutigsten in der Gilde.
Er denkt und zeichnet und druckt in allen Techniken. Er wechselt beherzt die Methoden und Mittel. Es gibt nichts, was er nicht kann. Bilderbuch, Schrift, Trickfilm, Plakat. Er ist zeichnender Philosoph und philosophierender Zeichner.
Šalamoun hat kein Talent zum Bescheidwissen. Sein Blick bleibt immer ein neugieriger. Wir sehen mit Bewunderung, wie er mit ungekränkter kindlicher Lust mit den Stoffen und Sujets spielt und auf die realen und literarischen Anforderungen mit immer wieder erfrischten Formen und Mitteln reagiert.
14.
Šalamoun ist ein fleißiger Mann. In seinem Bestiarium haben alle Platz.
Engel, Teufel, Raketen, Hunde, Lokomotiven, Waffen, Hobbits, Drachen, Tiere und Tiere und Tiere. Ausgedacht und real existierend. Der komplette Reigen unseres Lebens spaziert über seine vielen Bühnen. In allen Kostümen, in allen Masken und in jedem Licht.
15.
In Šalamouns Kopf versammelt sich der Bilderfundus der Menschheit. Auffallend viele Zeichnungen zeigen Ziffern und Buchstaben, die das Strukturieren der Sammlung und das Sortieren der Phänomene anscheinend erleichtern können. Aber eigentlich signalisieren die Zeichen, dass das Zählen und Numerieren vergeblich ist.
16.
Šalamouns Witz ist so vielfältig, wie seine Mittel. Sein Humor kann ironisch und sarkastisch sein. Er ist aber auch ungehobelt und provozierend. Er kann kryptisch und erhellend sein. Aber niemals ist sein Humor vernichtend oder gar zynisch.
Šalamoun ist kein Humorist. Davor schützt ihn seine ausgeprägte Neigung zur grotesken Distanzierung.
Obwohl seine Bücher und Filme besonders in Tschechien und vor allem bei den tschechischen Kindern sehr beliebt sind, bewahren ihn Formstrenge und stilistisches Feingefühl vor den Gefahren und dem Übel der Popularität.
17.
In einer Fußnote zum „Pythagoräischen Eisenbahnunglück“ führt Jiřί Šalamoun uns vor Augen, wie er mit Übel und Gefahren fertig wird.
Ich zitiere: „Neulich zum Beispiel, abends, spielte ich längere Zeit am Familientisch Mensch-ärgere-dich-nicht und verlor ununterbrochen, wie klug und weise ich mich auch anstellte. Dabei fiel ich mit Hilfe eines guten Kognaks in eine Art demütigen tranceähnlichen Zustand. (…) Entspannt und völlig ruhig gewahrte ich dann teilnahmslos, hoch über allem schwebend, wie ich ständig und perfekt gegen die Großmutter gewann. Und während nun meine Handflächen automatisch die byzantinische Geste eines Pankreators nachahmten, spielte um meine Lippen das abgrundtiefe, allwissende Lächeln der Mona Lisa!“ – Mensch ärgere dich nicht!
18.
Ich dachte bis neulich: Wer, wie Kafka redet, braucht keinen Kognak.
Die Großmutter sieht die byzantinische Geste des Pankreators und das allwissende Lächeln der Mona Lisa und sagt: „Wat soll ick dazu sagen?“