10. Mai 2017: Fledermaus zeichnen (Für Gerhard Oschatz)
1.
Gerhard Oschatz und ich pflegen seit langem ein seltsames und exquisites Hobby. Wir tauschen Eröffnungsreden. Wir spielen gewissermaßen Laudatio-Pingpong. Das geht schon zehn, zwölf Jahre so. Wer darüber nachdenkt, was in den vergangenen zehn, zwölf Jahren alles passiert ist, könnte verrückt werden. Wir, Gerhard und ich, werden nicht verrückt. Der Boden schwankt. Wir aber eröffnen regelmäßig und gegenseitig Ausstellungen. Das verleiht unserem Leben eine enorme Stabilität.
Dies ist nun die dritte Eröffnung, auf der ich Gerhard lobpreisen darf. Und er hat, wenn ich richtig gezählt habe, auch schon drei Ausstellungen für mich eröffnet.
Wir sind heute tatsächlich quitt. Drei zu drei. Ob wir alten Knaben noch auf ein Vier-zu-vier kommen, liegt allein in Gottes Hand.
Dieses Pingpong ist ein fröhlich-vergnügtes Geben und Nehmen.
Solch ein Geben ist nie vergeblich.
Und dieses Nehmen ist einvernehmlich.
2.
In diesen zehn, zwölf Pingpong-Jahren kam fast alles zur Sprache. So gut wie alles. Die Herkunft, die Wege, die Quellen, die Träume, die verlorenen Freunde, die gewonnenen Feinde, die Ängste und Hoffnungen, das Lächerliche und das Erhabene. Wir haben uns alles gesagt. Und was wir verschwiegen haben, war es wert, beschwiegen zu bleiben. Es ist wie bei einem alten Ehepaar.
Wir können voneinander nicht lassen.
3.
Wer den Künstler Oschatz mit allgemeinen Attributen – wie schön und gut, treu und redlich – beschreiben und lobpreisen will, kommt nicht sehr weit.
Ich habe im Laufe der Jahre eine große Zahl von bizarren Berufen zusammengetragen, um an den Kerl heranzukommen. Ein Berufener hat schließlich viele Berufe: Er ist vor allem Zeichner und Erzähler. Als Zeichner ist er Erzähler. Als Erzähler ist er immer Zeichner.
Darüber hinaus lebt er noch in anderen Berufen. Er ist Flaneur und Jakobiner (wenn das ein Beruf ist?), Äquilibrist und Spieler, Lehrer und Schüler, Empörer und Hofnarr, Prenzlauer-Berg-Steiger, Fledermaus, und in Relation zu Max Schwimmer Nichtschwimmer. Die Aufzählung ist unvollständig. Die Reihenfolge ist variabel.
4.
Vor gefühlten hundert Jahren bat die Bildredakteurin der Zeitschrift „Das Magazin“, die von allen geschätzte Brigitte Voigt, ihre Illustratorinnen und Illustratoren um eine Zeichnung unter dem Motto „Ich als Tier“. Vorne das Ich, hinten das Tier. Elizabeth Shaw zeichnete eine schöne Elizabeth-Shaw-Eule, Frank Leuchte zeichnete sich als hohes Tier – eine Giraffe mit Baskenmütze, Volker Pfüller zeichnete einen Kater, der mit Ingrimm die Initialen der Volkspolizei auf ein Blatt kratzt – V. P., Hans Ticha hat eine Robbe und Klaus Ensikat einen Tiefseefisch gezeichnet.
Die Illustratorinnen und Illustratoren lieferten bewegende Psychogramme. Es waren sehr viele Eulen und beachtlich viele Katzen dabei. Keine Schweine, keine Hühner, keine Wölfe.
Gerhard Oschatz zeichnete eine Fledermaus. Auf dem Trikot des putzigen, breit grinsenden Batman prangt ein rotes (!) O.
O wie Oschatz. Gerhard O. Batman.
Bernd Meyer, der Layouter des Magazins hatte das Passfoto von Oschatz um 180 Grad gedreht, also kopfunter montiert, so dass in der Reihe der Kollegenfotos dieser umgedrehte Oschatz besonders ins Auge stach.
5.
Das O ist das ideale Zeichen für einen wie ihn:
Peter Ensikat dichtete:
Ob man enttäuscht ist oder froh,
das alles sagt ein einziges O.
Wofür man tausend Wörter braucht,
das ist ein O,
wenn es gehaucht.
Kurzum, das O ist unser Schatz,
denn es sagt mehr als jeder Satz.
Besser kann es keiner sagen. Das O ist unser Schatz – Oschatz.
Es ist das O der Überraschung. O! Es kann aber auch das O der Enttäuschung sein. O! Das O ist ein schöner Buchstabe. Rund wie die Sonne, vollkommen wie ein Rad. So schön wie die Null, die schönste unter den Zahlen.
Warum geben Eltern ihren Söhnen so selten den Namen Otto? Ich stelle mir vor, ein Leben mit zwei O muss ein glückliches sein.
In den schönsten Worten steckt das O. Obsttorte, Oboenkonzert, O Lord! Gottogott. Die Thüringer und Sachsen haben es mit Fleiß vermehrt. –Stroßenbohn, Korl Morx, Voterlond. So schön ist das O!
6.
Gerhard O. Batman hängt an einem Zweig. Füße nach oben. Kopf nach unten. So betrachtet er grinsend die Welt. Alles, was für die Normalen oben ist, ist für ihn unten. Und genauso ist, was für uns unten ist, für ihn oben. Logisch. Wer die Welt kopfstehend oder kopfunter baumelnd wie Gerhard O. Batman betrachtet, für den lösen sich fast automatisch die streng gezimmerten Ordnungen auf. Vielleicht erklärt das Gerhard Oschatz´ Linkshändertum, seine Wortspiellust, das mühelose Auf-dem-Kopf-Gehen-Können, die Lust am Verdrehen, die Albernheit beim Betrachten von in Beton gegossenen Wahrheiten.
Wer die Welt so betrachtet, sagt nicht „Ja und Amen“ oder noch schlimmer „Entweder oder“. So einer lächelt und sagt: „Sowohl als auch.“
7.
Mit diesen drei Worten sind knifflige Fragen leicht zu beantworten. Bist du Zeichner oder Künstler? Berliner oder Thüringer? Links oder konservativ. Kühn oder verzagt? Stark oder schwach? Mutig oder ängstlich. – Sowohl als auch. Diese Worte gehören in die Werkzeugkiste eines jeden Dialektikers.
8.
Ich kenne nicht viele, die mit so vielen Spitznamen bedacht werden, wie Gerhard Oschatz. Bei der Suche nach solchen Namen mischt er selber kräftig mit. Es ist ein semantisches Versteckspiel, bei dem der Versteckte besonders gut sichtbar wird.
Gerhard O. – Ostschatz – Oschi – G-Punkt – G-Punkt-O-Punkt.
Heute kommt ein neuer Titel dazu: Gerhard O. Batman
9.
Wer Gerhard O. Batman nach Wohnsitz, Familienstand, Staatsbürgerschaft und hnlichem Kram fragt, bekommt die prompte Antwort: „Sowohl-als-auch!“
Wer so spricht, lebt in Zeiten der intensivierten Heimatsuche gefährlich. Dreh dich nicht um, die Identitären gehn rum! Die haben vor allem eines nicht: Humor. Die können nur das Entweder-oder. Und das verbreitet sich zur Zeit auf beängstigende Weise rasend schnell. Gerhard, es wird eng.
10.
Von Gerhard O. ein Entweder-Oder zu verlangen, ist aussichtslos. Er ist in vielem immer alles. Er liebt das Paradox. Er ist Zeichner und auch Wortäquilibrist. Das eine gibt es bei ihm nicht ohne das andere. Eine Doppelbegabung ist ein zwielichtiges Geschenk, Wer eine Doppelbegabung besitzt, kann sich das Leben natürlich versauen. Die Doppelbegabung sitzt ja nicht im Schaukelstuhl und wippt mit dem großen Zeh. Die Doppelbegabung wird nicht müde, jeden Tag penetrant zu fragen: „Na, was machen wir? Leg los, ich bin da. He, worauf wartest du?“
Erst wenn der Künstler sich seufzend aufrafft, und loslegt, schweigt die Doppelbegabung und sieht dem Treiben mit Ungeduld zu. Am nächsten Tag geht das Spiel natürlich wieder von vorne los. „He, worauf wartest du?“
11.
Das Zeichnen ist, wie jede Kunst, verräterisch. Die Zeichenkunst ist äußerst mitteilsam. Diese Eigenschaft teilt sie mit allen Künsten. – Aber der schwache Text muss allerdings erst gelesen werden, bevor wir seine Schwäche erkennen. Die starke Zeichnung erkennen wir sofort. Wer zeichnet, ist erkannt. Wir sehen im Bruchteil einer Sekunde, ob der Zeichner mutig war. Oder hatte der Zeichner Schiss? Ist der Zeichner fröhlich, ist er melancholisch? Jeder kann es sehen. Sofort! Kein Blendwerk bietet schattige Verstecke. Der Zeichner ist nackt. Kein Feigenblatt bedeckt die Scham.
12.
Die großen Lehrer Walter Trier, Albert Schäfer-Ast, George Grosz, Saul Steinberg, Tomi Ungerer, André Francois, Ben Shan, Henryk Tomaszewski, Jirí Šalamoun – um nur einige von vielen zu nennen, haben ihm die Werkzeuge und Mittel gezeigt. Man braucht, sagt der Zeichner, eigentlich nicht viel: Kreis, Punkt, Linie, eine Zickzack- oder Wellenlinie und einen Fleck. Was so leicht aussieht, ist mit Fleiß studiert und wurde von Niederlage zu Erfolg und von Erfolg zu Niederlage immer und immer durchlaufen. Kreis, Punkt, Linie, Zickzack, Welle, Fleck. Nicht immer in dieser Reihenfolge. Immer in Abwandlungen. Aber immer Kreis, Punkt, Linie, Zickzack, Welle, Fleck. Es sind die Mittel der Moderne. Wer von dieser Droge genascht hat, ist für sozialistischen und kapitalistischen Realismus nicht mehr verwendbar.
13.
Was hat der Zeichner gesagt? – „Man braucht eigentlich nicht viel.“
Ich protestiere! – Eigentlich braucht man sehr viel.
Man braucht - wie der große Fontane sagt - erst einmal ein gewisses Quantum an Mumpitz. Ohne Mumpitz käme so einer wie Oschatz nicht durch so ein Leben. Mumpitz also.
Aber das Wichtigste, das man braucht, ist Mut.
Mut, der direkt aus der Herzgrube kommt. Mut den Impulsen zu trauen und sich von ihnen leiten zu lassen. Mut, das Kalkül und die Berechnung fahren zu lassen. Diesen Mut hat Gerhard O. in ausreichendem Maße.
Ich darf nicht neidisch sein. Das haben mir die Ethiklehrer meines Lebens eingetrichtert. Heute bekenne ich öffentlich, dass mich angesichts von Gerhards mutiger Zeichenkunst manchmal der Neid packt. Gerhard traut sich etwas, was ich mir nur mit härtester Selbstüberwindung abringen kann. Die Selbstüberwindung bringt immer ihre nette Schwester, die Selbstermutigung, mit. Die Selbstermutigung sagt: „Du bist gut. Trau dich. Zieh jetzt nicht den Schwanz ein. Es ist von dir. Sei sicher. Das bist du. Lass es so stehen.“ – Die Selbstermutigung fordert Schwerstarbeit!
Solche angestrengten Zwiegespräche scheint Gerhard Oschatz überhaupt nicht zu kennen. Den Seinen gibts der Herr im Schlaf. Wie soll ich da nicht neidisch sein!
14.
Auf die Frage „Haben Sie eine Visitenkarte?“ antwortet Oschatz naturgemäß: „Natürlich nicht!“ Diese Antwort ist verbürgt. Damit endete die Westkarriere von Gerhard O. Batman. Diese Antwort illustriert anschaulich, dass der Sowohl-als-auch-Künstler anscheinend vollkommen ignoriert, dass ein öffentlicher Künstler sein Firmenschild immer und immer putzen muss. Er genießt – wie man heute sehen kann – die Aufmerksamkeit einer geneigten Öffentlichkeit. Aber er unterlässt es hartnäckig und konsequent, sein Rad zu schlagen, um die Anerkennung einzuheimsen, die ihm gerechterweise zusteht. Er hat keine Eile, sich für die Welt zu öffnen. Es scheint, als ob er über alle Zeit der Welt verfügt. Vielleicht hat er wirklich mehrere Leben.
15.
In Gerhard Oschatz´ Atelier liegen in hundert Mappen tausend Meisterzeichnungen. Diese Arbeiten vermehren sich täglich, denn der Zeichner arbeitet unablässig und unermüdlich.
Diese Meisterblätter haben allerdings einen Makel: So gut wie niemand bekommt sie zu sehen. Dass ich einen Zipfel vom Ganzen erblicken durfte, hat einzig mit dem Privileg eines Lobredners zu tun.
Diese bizarre Form der Öffentlichkeitsscheu nannte ich einmal kühn und halb im Scherz eine anrührende Spielart von Asozialität.
Als das riskante Wort heraus ist, lächelt Gerhard und korrigiert mich auf unnachahmliche Weise: „Schamlose Bescheidenheit trifft es besser.“
– Schamlose Bescheidenheit. – In unverschämt unbescheidenen Zeiten ist so ein Wort nicht nur bemerkenswert sondern auch außerordentlich kostbar.
Schamlose Bescheidenheit erlaubt den Gewinn einer doppelten Freiheit.
Der schamlos Bescheidene steht nur vor dem selbst ernannten Richter. Aber der ist, das weiß jeder Künstler, nicht immer der bequemste und schon gar nicht der gerechteste.
Der schamlos Bescheidene ist vor allem und wirklich frei gegenüber den Forderungen des Exhibitionismus, des Entertainments und überhaupt des allgemeinen modischen Schwachsinns. Diese doppelte Freiheit sieht man allen seinen Arbeiten an. Schamlos bescheiden.
16.
Gerhard O. ist – das muss unbedingt noch erwähnt werden – ein Müllerssohn. Wer das weiß, dem erschließt sich, warum wir hier so viele Reisebilder sehen. „Das Wandern ist des Müllers Lust“. Ein trauriges Lied. Der Müller darf die Mühle, dieses technische Monstrum, von dessen Existenz ganze Landstriche abhängen, nicht verlassen. Träumen darf er, sogar singen, aber wandern darf er nicht.
Der kluge Müllerssohn zieht daraus seine Schlüsse. Dieses Elend will er nicht tragen. Er pfeift auf die Mühle. Gerhard Oschatz nimmt den Kater und wird Künstler. Er kann wandern. Nicht nur in Gedanken, sondern auch tatsächlich.
Das Reisen ist die Pflicht des Künstlers. Hier sehen wir, wo überall er war.
Unter den Linden und in Rom, in der Choriner Straße und in Mexiko, in der Schönhauser Alle und in Amsterdam, auf dem Alexanderplatz und in Paris.
Gerhard O. ist immer unterwegs. Und von überall her bringt er feine Zeichnungen mit. Die sind, wenn er heimkehrt, oft nicht im Koffer. Aber sie sind in seinem Kopf und da müssen sie heraus und auf das Papier.
17.
In sechs Wochen – am 20. Juni – verschwindet die ganze Pracht leider wieder in den großen Mappen und wandert zurück in Choriner Straße. Nutzen Sie die Zeit und schauen Sie so intensiv Sie können. In absehbarer Zeit wird es kein Buch mit dem Titel „Gerhard O. Batmans gesammelte Werke“ geben. Von diesem Buch träume ich wie der Müller vom Wandern.
Laudatio zur Eröffnung der Ausstellung "Zeichnungen" von Gerhard Oschatz, Galerie 100 in Berlin-Hohenschönhausen